© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Jenseits der üblichen Kapitalismusschelte
Otfried Höffe analysiert den Freiheitsbegriff in der postindustriellen Welt
Felix Dirsch

Otfried Höffe dürfte zum führenden Kreis der bundesdeutschen Philosophen gerechnet werden. Besonders auf den Gebieten der politischen Philosophie wie der Ethik hat er sich verdient gemacht. Darüber hinaus konnte er wichtige Monographien über führende Vertreter der europäisch-amerikanischen Geistesgeschichte wie Hobbes, Kant und Rawls vorlegen.

Höffes jüngste Studie wird in seinem stattlichen Werk nicht den geringsten Rang einnehmen. Das für die neuzeitliche Geistesgeschichte so zentrale Phänomen der Freiheit findet darin eine Analyse, die ihresgleichen sucht. Wohl keines der konstitutiven Prinzipien der Moderne läßt solche Ambivalenzen, dialektische Momente, Paradoxien und Kehr- sowie Schattenseiten erkennen wie die Freiheit. Mit ungeheurer Akribie verdeutlicht der Tübinger Emeritus den Facettenreichtum ihrer Erscheinungsformen.

Wie weit Höffe ausholt, zeigt bereits der erste Abschnitt „Freiheit von Natur-zwängen“, dem die Teile „Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft“, „Wissenschaft und Kunst“; „Politische Freiheit“ und „Personale Freiheit“ folgen. Während neomarxistische Vordenker wie Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrer unsystematischen „Dialektik der Aufklärung“ noch konstatieren, jede Unterdrückung der äußeren Natur habe die Deformierung der inneren zur Folge, kommt Höffe zu einer gut begründeten Schlußfolgerung: Die Freiheit von Naturzwängen sei eine basale Freiheit. 

Ohne diese hätten sich weitere Formen von Liberalität nicht herausbilden können. Auch das heikle Kapitel von Sterbebegleitung, Freitod, reproduktiver Autonomie und Präimplantationsdiagnostik wird nicht ausgespart. Mitunter werden die Freiheitsgewinne durch Lebensverlängerung infolge des Einsatzes verbesserter medizinischer Methoden zur Qual. Der Verfasser zeigt, wie mit dieser Situation umgegangen werden kann. Die Untersuchung des Gelehrten, der Mitglied diverser hochrangiger Ethikgremien ist, ist um ausgewogene und nachvollziehbare Urteile an keiner Stelle verlegen.

Ein Kernstück der Abhandlung ist natürlich der sozial-ökonomische Sektor. Die häufig zu spürende Dominanz der Märkte wird durchaus kritisch untersucht. Für eine populäre Kapitalismusschelte, für die zuletzt Namen wie der des Soziologen Wolfgang Streeck und der des Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty stehen, kann sich Höffe jedoch nicht begeistern. Die ökonomische Deregulierung seit den achtziger Jahren brachte neben manchem, was beklagenswert sein mag, auch einen spürbaren Rückgang der weltweiten Armut, der selbst durch den Einschnitt der Finanzkrise nicht signifikant gestoppt werden konnte.

Auch klassische Bereiche neuzeitlicher Liberalität, insbesondere die Errungenschaften der Menschen- und Grundrechte, werden ausgiebig erörtert. Höffe zeigt ihre Komplexität, die weit über den Kontrast von „negativer Freiheit“ (Charles Taylor) und positiver hinausreicht. In diesem Kontext spielt auch die Demokratie als Verwirklichung partizipativer Freiheiten eine wesentliche Rolle. Höffe ist skeptisch, daß neue digitale Formen des Diskurses, etwa im Rahmen der von einigen Enthusiasten gepriesenen „liquid democracy“, das traditionelle parlamentarische Prozedere ersetzen können.

Selbst neuartige Informationsformen belegen das alte Dilemma. Den vielfältigen Freiheitsgewinnen der Computer- und Internetkommunikation steht die Gefährdung durch Datenmißbrauch gegenüber, der sogar Staatskrisen auslösen kann. Erfreulich ist auch die Deutlichkeit mancher Urteile, die nicht überall Beifall finden, beispielsweise über den derzeit aktuellen zu laxen Umgang der Behörden mit Wirtschaftsflüchtlingen.

Am Ende der kundigen Ausführungen findet sich einiges zu den Auswirkungen der Globalisierung und Europäisierung auf die Freiheit sowie zu Fragen der personalen Autonomie. Die Erkenntnis am Schluß ist zustimmungsfähig: Moderne und Freiheit sind alternativlos, müssen aber stets neu gestaltet werden. Die Beantwortung der Frage, wie das geschehen wird, entscheidet die Zukunft auch unseres Landes.

Otfried Höffe: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. Verlag C.H. Beck, München 2015, gebunden, 398 Seiten, 29,95 Euro