© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Von Einheit ist nur wenig zu spüren
Kurden: Ein Staat wird auch in Zukunft ein Traum bleiben / Vor allem die PKK geht ihre eigenen Wege
Ferhad Ibrahim Seyder

Die Kurden stehen im Epizentrum der regionalen Konflikte im Vorderen Orient. Beinah täglich sorgen sie für Schlagzeilen: ob als Opfer eines Giftgasangriffs des IS, als Ziel Vergeltung suchender türkischer Luftangriffe oder als Kämpfer gegen die Kalifatskrieger. 

Rückblende: Im Juni 2014, als der IS die zweitgrößte Stadt des Irak, Mossul, eroberte, verkündete der Präsident der kurdischen Region des Irak, Masud Barzani, daß er Schritte einleiten möchte, um ein Referendum im irakischen Kurdistan durchzuführen. Das Ziel sei, die Bevölkerung im Herrschaftsgebiet der Autonomen Region Kurdistans (KRG) über den Verbleib im irakischen Staatsverband oder die volle Unabhängigkeit zu befragen. Barzani hatte Grund, Schritte für die Unabhängigkeit einzuleiten. Syrien und Irak begannen entlang der ethnisch-konfessionellen Linien zu zerfallen. Selbst US-Präsident Barack Obama sprach in der New York Times von dem Zerfall des Sykes-Picot-Staatensystems. 

Ankara und Teheran ringen um Vormachtstellung

Die Mitspieler im regionalen „System“ waren natürlich mit dem Plan von Barzani nicht ganz einverstanden. Bei den Kurden meldete sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu Wort. Es hieß, daß die ehemalige stalinistische Partei, die seit der Verhaftung von Abdullah Öcalan libertär-demokratische Gedanken propagiert, einen Nationalstaat für die Kurden ablehne. Sie bevorzuge vielmehr demokratische Konföderationen im gesamten Vorderen Orient. Der Nationalstaat sei, so das neue Diktum des seit 15 Jahren inhaftierten Führers der PKK, Abdullah Öcalan, undemokratisch und ein anachronistisches politisches Paradigma. 

Von einer Einheit der Kurden ist nur wenig zu spüren. Im Gegenteil. Auch die mit der PKK verbündete Patriotische Union Kurdistans, PUK, die von dem schwer erkrankten Expräsidenten des Irak, Jalal Talabani, angeführt wird, lehnte die Unabhängigkeit ab. 

Der größte Rückschlag für ein unabhängiges Kurdistan war der überraschende Angriff des IS auf die Verteidigungslinien der Kurden Anfang August 2014, und zwar an einer Frontlinie von mehr als 700 Kilometern. Dabei standen die Truppen des IS in den Vororten von Bagdad. Es war eher die Eroberung von Bagdad und damit der Sturz des schiitischen Ministerpräsidenten vorstellbar. Über den Sinneswandel des IS wird viel spekuliert. Vielleicht wurde die Gefahr eines unabhängigen Kurdenstaats als die größere Gefahr bewertet.

Teheran stellte sich in die Reihen der kurdischen Unabhängigkeitsgegner. Das  schiitische Regime hatte allen Grund, die Schwächung des Irak durch das Ausscheren der Kurden aus dem irakischen Staatsverband abzulehnen. Auch der Iran hat seine Kurden, und die Unabhängigkeit der irakischen Kurden könnte für sie ebenso modellhaft sein.

Nur die Türkei hielt sich bedeckt. Die iranisch-türkische Konkurrenz um die Vormachtstellung im Vorderen Orient determinierte die Position der Türkei. Die Türkei ist zwar im Prinzip gegen die Revision des Sykes-Picot-Staatensystems. Es war aber nicht im Interesse der Türkei, die Position des Iran und seiner kurdischen Verbündeten zu unterstützen.

Die Türkei mußte in den vergangenen zwei Jahren wiederholt mit bisherigen Tabus brechen. Einmal, als sie Ende Oktober 2014 erlaubte, daß einige Bataillone der KRG-Peschmergas, die die in Kobani vom IS bedrängten Volksverteidigungseinheiten der YPG unterstützen sollten, durch das türkische Territoriums marschieren. Sie empfing auch auf Drängen der KRG die Führer der Partei der Demokratischen Einheit. Die PYD ist nicht nur die dominante politische und militärische Kraft in den kurdischen Siedlungsgebieten Syriens; darüber hinaus bekennt sie auch sich zur Führung Abdullah Öcalans.

Dies bedeutet aber nicht, daß die AKP-Regierung in Ankara die Politik der Übertragung von Verantwortung der Kurden hinnimmt. Drei Faktoren verursachten einen krisenhaften Verlauf des Friedensprozeß, der in der Türkei offiziell im Jahre 2013 verkündet wurde. Regional blieb die PKK dem Iran nahe. In Syrien erlaubte sich der PKK-Ableger PYD eine Monopolstellung und baute Strukturen auf, die die Türkei ablehnte, weil sie nach der türkischen Lesart die Selbständigkeit der syrischen Kurden fördere. 

Ein bizarres Bündnis zwischen PKK und den USA 

Schließlich wurde während der Wahlkampagne zum neuen türkischen Parlament deutlich, daß die Demokratische Partei der Völker, HDP, primär gegen die regierende Partei, also die AKP agiert. Die HDP hat tatsächlich die 10-Prozent-Hürde überschritten und 80 Parlamentssitze erhalten. Die PKK und alle von ihr abhängigen Organisationen haben das Ergebnis als einen großen Sieg gefeiert. 

Doch zwei Faktoren trugen dazu bei, daß die PKK in die regionale Isolation geriet. Die Syrienpolitik der PKK und ihres Ablegers, der PYD, war solange erfolgreich, solange die USA die Gründung einer Schutzzone ablehnten. Diese Frage bildete einen wesentlichen Streitpunkt zwischen Obama und Erdogan. Als die USA im Herbst 2014 den Luftkrieg im Irak und Syrien verkündeten, weigerte sich die Türkei, ein Teil der internationalen Koalition zu werden. Die Türken favorisierten aus vielen Gründen eine Schutzzone in Syrien. Zum einen um die Flüchtlingsströme in Richtung Türkei einzudämmen und zum anderen, um das System in Damaskus zu schwächen. Denn von hier aus könnte die Opposition ihre Macht etablieren und eine Gegenregierung auf dem syrischen Territorium bilden. Die PKK und die PYD lehnten die Pläne ab. Einmal, weil sie ihre Vormacht in dem Gebiet, das sie Rojava (Westkurdistan) nannten, gefährdet sahen. Zum anderen waren sie mit den oppositionellen syrischen Kräften nicht einig. Sie warfen und werfen der PKK und der PYD vor, immer noch mit dem Bashar-al-Assad-Regime in Verbindung zu stehen. 

Dabei vetrauten PKK/PYD darauf, seit der Schlacht um Kobani faktisch Verbündete der USA zu sein. Ohne den Luftkrieg gegen den IS hätten die Volksverteidigungseinheiten niemals ihre Stellungen verteidigen können. Das bizarre Zweckbündnis zwischen der PKK/PYD und den USA gab der PKK-Führung die trügerische Sicherheit, daß die USA es nicht zulassen würden, daß die PKK/PYD durch Erdogan geschwächt werden.

Die vermeintliche Waffenbruderschaft mit den USA war aber nicht von der Intensität, daß sie die türkische Bombardierung der Stützpunkte der PKK im nordirakischen Kandilgebirge hätte verhindern können, in dem sich die PKK seit den 1990er Jahren – oft gegen den Willen der irakischen Kurden – verschanzte und stabile militärische  sowie politische Strukturen aufbaute. Kandil ist faktisch die autonome PKK-Republik. Sie erlaubt ihr, sich von Fall Fall zu Fall Verbündete im irakischen Kurdistan zu suchen. 

Faktisch unterstützt die PKK die PUK und ihre Verbündeten, um die Macht in Erbil zu übernehmen. In diesem Punkt erhalten sie, die PKK und PUK, die Unterstützung des Iran. Die USA halten sich in diesem kurdisch-kurdischen Machtkampf zurück. Auch gegenüber Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (DPK). Dieser Umstand hängt damit zusammen, daß die USA einen neuen Disput mit dem Iran vermeiden wollen.






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim  Seyder ist Leiter der Mustafa-Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt.

Foto: Peschmerga-Kämpfer tragen ein Bild Masud Barzanis bei Amedi an der irakisch-türkischen Grenze: Die Konkurrenz unter den Kurden ist groß