© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Pankraz,
Bad Ischl und der magere Kurschatten

In Österreich brodelt’s im Sommerloch. Die Behörden dort wollen den herkömmlichen Kurbetrieb „rationalisieren“, nicht zuletzt um dadurch den Staatshaushalt in Sachen Gesundheitsfürsorge zu entlasten. Bisher konnte faktisch jeder Pflichtversicherte innerhalb von fünf Jahren mit bester Aussicht auf Erfolg zweimal „Kuraufenthalt“ beantragen; die staatlich bezahlte Kur galt als soziale Errungenschaft der Nachkriegszeit. Das soll sich nun ändern. Der Begriff der Kur soll genauer definiert oder gar ganz abgeschafft werden. Die Aufregung ist beträchtlich.

Hierzulande werden Kuren nach sogenannten Kurortegesetzen oder entsprechenden Verordnungen geregelt; der Begriff taucht in Beihilfevorschriften oder in den Versicherungsbedingungen der Krankenversicherer auf. In dem Kurortgesetz von Nordrhein-Westfalen heißt es unter anderem: „Eine Kur dient durch wiederholte Anwendung vorwiegend natürlicher Heilmittel nach einem ärztlichen Plan der Gesunderhaltung oder Genesung des Menschen; in der Regel ist sie mit einem Ortswechsel verbunden.“

Im übrigen gilt in Deutschland das 1996 verabschiedete Beitragsentlastungsgesetz, in dem alle Posten, die bis dato als klassische Kurzuschüsse galten, extrem zusammengestrichen wurden. Stattdessen spricht man nun von Reha- und anderen „Maßnahmekosten“, an denen der Staat beziehungsweise eine Krankenkasse sich beteiligt. Freilich ist damit jeweils ein derart aufwendiger Papierkrieg über das Ausmaß der Zuschüsse verbunden, daß viele Antragsteller darüber nur noch verzweifeln können. Die Kur ist von der Bürokratie regelrecht aufgefressen worden.


Ein großes Stück Kulturtradition geht damit den Bach hinunter. Eine Kur war nie eine bloße medizinische Behandlung, keine spezielle „Maßnahme“, sondern ein ganzes Bukett von Einfällen und Verhaltensweisen, die gerade nicht exakt ausmeßbar waren, sich lediglich ergänzten, sich manchmal aber auch gegenseitig in die Quere kamen. Man wollte die Kur genießen, sie sollte ein erquickendes Bad sein – doch mitunter geriet sie zur puren Belastung, zum Schlammbad etwa oder zur peinlichen Wurmkur, und Kurschatten tauchten auf, denen man sonst entschieden aus dem Weg gegangen wäre.

Das Gesetz von NRW hat ja recht: In der Regel ist die Kur mit einem Ortswechsel verbunden. Gleich nachdem die Kur im neunzehnten Jahrhundert ihren aristokratischen Nimbus eingebüßt hatte und pro forma für jedermann zugänglich geworden war, tauchten sogenannte Kurorte auf und schmückten sich mit der Vorsilbe „Bad“. Es waren in der Regel besonders hübsche Orte, in denen man sich spontan wohlfühlen und meistens auch frei durchatmen konnte, weil sie am Wasser oder im Hochgebirge lagen, häufig eine Saline besaßen, inklusive Kurbrunnen und interessanten Kurgästen. 

Man war als Kurgast niemals bloß Patient, sondern immer auch eine Art Luxusbürger, um den sich die Domestiken der Kurhotels extra kümmerten. Die Krankheit, das Leiden als solches, wurde gewissermaßen geadelt, die ausgedehnten Spaziergänge, das Wassertreten, die Massage, die Kurpackung … Und das Kuren insgesamt bezog sich niemals bloß auf Heilung und Rehabilitation, umschloß nicht weniger demonstrativ Vorsorge und simple Erholung, Ausspannen, Abschalten, Kräfte sammeln.

Wer früher zur Kur fuhr, der war sich wohl meistens auch über die ursprüngliche Bedeutung  des Wortes, die lateinische cura, im klaren. Unter cura verstand man bis in die Lutherzeit hinein buchstäblich jederlei Art von Sorge und Besorgnis, keineswegs nur Gesundheitsfürsorge. Gespanntes Interesse, für was auch immer, war cura, jeder intensiv Neugierige war ein „curator“, wie heute nur noch Ausstellungmacher. Andererseits galten auch eitle Fans, die sich auffällig herausputzten, als von cura befallen; sie sehnten sich nach cura, nach Liebe, Aufmerksamkeit und Anteilnahme.


Zu Symbolen des klassischen Kurbetriebs für ganz Europa und darüber hinaus wurden im neunzehnten Jahrhundert der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph und das Städtchen Bad Ischl im Salzkammergut. Kaiser Franz Joseph kann geradezu als der Inbegriff des Kurgastes gelten und Bad Ischl, wo er in seiner Sommerresidenz regelmäßig kurte, als die Kurstadt an sich und überhaupt.

Die Stadt hatte schon, bevor der Kaiser kam, alles, was zu einem veritablen Kurbad gehörte. Sie lag im Zentrum des Salzkammerguts, war im Sommer durchweht von kühlenden  Hochgebirgswinden, kuschelte sich in die mächtigen Flußbögen der Traun und verfügte üppig über gesundheitsträchtige Thermen und Salinen. Doch erst die Ankunft der Wiener Majestät mitsamt den vielen Sekretären und Höflingen machte das Bild komplett: ernsteste Sorgen und freudigste Daseinsfeier aufs engste beisammen, Dialoge auf höchstem Niveau – eine Welt in nuce.

Man kann gut verstehen, daß die von Wien geplante Abschaffung des klassischen Kurbetriebs, seine Überführung in streng geregelte Heilmedizin plus entsprechendem Bürokatiejargon, in Österreich besonders melancholisch registriert wird.Es geht nicht nur um gestrichene Krankenkassen-Zuschüsse, sondern eine ganze große Epoche wird beendet. Die Zustände vergröbern sich. Neuerdings soll statt Bad Ischl die Gemeinde Ischgl in Osttirol der neue „Kurort des 21. Jahrhunderts“ sein, der inzwischen die Maßstäbe setze und anderen Kurorten zum Vorbild diene.

Ischgl ist kein Bad mehr, sondern ein wildes Skifahrernest, das geradezu vor Gesundheit strotzt, und in dem es einige teure Hotels gibt. Feinere Herrschaften meiden den Ort aber, es sei denn, sie wollen ordentlich Geld ausgeben und medial auffallen. Ischgl ist keine „Sommerfrische“ wie Bad Ischl, sondern höchstens eine Winterfrische. Man handelt sich bei einem

Kuraufenthalt leicht eine Menge Sturz- und Platzwunden ein, die dann zunächst genäht werden müssen. Wieviel von den Kosten die Krankenkasse übernimmt und unter welchem Titel, ist noch ungeklärt.