© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Eine Million Rubel für den Kommandanten
Der plötzliche Fall der russischen Narew-Festung Nowogeorgiewsk 1915 geht wohl auf Bestechung zurück
Jürgen W. Schmidt

Bei der Verteidigung von Festungen laufen russische Soldaten stets zur Hochform auf, ganz egal ob es sich um Sewastopol 1855, Port Arthur 1905 oder Brest-Litowsk 1941 handelt. Daher erstaunte der rasche Fall der russischen Festung Nowo-georgiewsk (heute Modlin/Polen) die Öffentlichkeit. Nach nur zwei Wochen Belagerung kapitulierte am 20. August 1915 die von zwei Infanteriedivisionen und zwei Landwehrdivisionen verteidigte Festung, und 90.000 Russen marschierten in Gefangenschaft, unter ihnen 23 Generale und 2.100 Offiziere. 

Der Sieger, General Hans von Beseler, konnte sich über eine beträchtliche Kriegsbeute freuen, darunter 1.096 Festungsgeschütze und 108 Feldgeschütze. Nur fünf russische Offiziere gaben sich damals nicht gefangen, brachen nächtens aus der Festung aus und marschierten Hunderte Kilometer im Rücken der deutschen Truppen zu den eigenen Linien zurück. Obwohl General von Beseler als großer Fachmann für den Festungskrieg galt – er war zu Friedenszeiten Generalinspekteur des Festungswesens gewesen und hatte Anfang Oktober 1914 die große Gürtelfestung Antwerpen bezwungen –, kamen sogleich in der russischen Armee Gerüchte über Verrat seitens des Festungskommandanten auf. 

Bei ihm handelte es sich um den 1854 geborenen General der Kavallerie Wassilij Georgewitsch Bobyr, der seit dem 14. Februar 1907 mit Nowogeorgiewsk eine der größten Festungen Europas befehligte. Gemäß den umlaufenden Gerüchten hatte sich General Bobyr vom deutschen Geheimdienst mit einer hohen Geldsumme bestechen lassen. Leider konnte man General Bobyr dazu nicht persönlich befragen, denn er war in Nowogeorgiewsk in deutsche Gefangenschaft geraten, und sein weiterer Verbleib ist unbekannt. 

2012 erneuerte der russische Historiker Jewgeni Belasch in seinem Buch „Mythen des Ersten Weltkriegs“ den Vorwurf des Verrats gegenüber General Bobyr und nannte ausdrücklich eine Bestechungssumme von einer Million Rubel (etwa 15 Millionen Euro), welche man ihm damals für die schnelle Übergabe der Festung anbot. Damit stimmt überein, daß sich 1923 ein aus Thorn gebürtiger Kaufmann polnischer Herkunft namens Konstantin Tomaszewski bei der „Abgeltungskommission des Reichfinanzministeriums“ meldete, um eine erhebliche Geldsumme für sich einzufordern. 

Angeblich hatte er im August 1915 im Auftrag des deutschen Geheimdienstes mit dem Festungskommandanten unterhandelt, um die Festung Nowo-georgiewsk zur Übergabe zu bewegen. Daraufhin habe sich General Bobyr freiwillig in deutsche Hände begeben und aus der Gefangenschaft heraus den Befehl zur Übergabe erteilt. Das Reichsarchiv in Potsdam widmete 1921 dem seltsamen Kasus in der Schriftenreihe „Schlachten des Weltkriegs“ eine eigene Studie unter dem Titel „Die Eroberung von Nowo-Georgiewsk“. Der Archivar Hauptmann a. D. Franz Bettag erwähnte darin zwar keinerlei Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes. Doch gab er zu, daß sich Festungskommandant Bobyr seltsamerweise waffenlos zu Verhandlungen auf die deutsche Seite begab und von hier aus den Befehl zur Übergabe der Festung erließ. 

Aktuelle Quellen stützen Verdacht der Bestechung

In einem Anhang des Buches bezeichnet ein russischer Offizier jenen Bobyrschen Befehl als „traurige Fälschung“. Doch immerhin kapitulierte die Festung aufgrund ebendieses falschen Befehls. Neuerdings hat sich eine deutsche Geheimdienstquelle vom Jahr 1915 angefunden, welche eindeutig auf geheimdienstliche Aktivitäten beim Fall der Festung hindeutet und gleichfalls die Bestechungssumme von einer Millione Rubel nennt. 

Der dem Geheimdienst angehörige Rittmeister Fritz Schnitzer verzeichnet in seinem 2014 publizierten Kriegstagebuch am 19. August 1915 spätabends ein Telefongespräch mit dem Nachrichtendiensthauptmann Lorenz von der Ostfront. Bei jenem Gespräch ging es um die gerade laufenden Unterhandlungen mit dem russischen Festungskommandanten, welchem man eine Million Rubel versprochen habe, wenn er die Festung unzerstört in deutsche Hände übergebe. Obwohl Verratsbeschuldigungen im Falle von gravierenden Niederlagen in Rußland immer schnell aufkommen, im Fall des Generals Bobyr scheinen sie tatsächlich mehr als einen Hauch von Wahrheit zu beinhalten.