© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Unermeßlicher Schaden
Paul Rosen

Mit flapsigen Worten verabschiedete Bundestagspräsident Norbert Lammert  (CDU) die Abgeordneten nach der Griechenland-Sondersitzung wieder in die Ferien: Wegen Reparaturarbeiten am Computersystem des Bundestages müßten bei der Wiederinbetriebnahme alle Paßwörter geändert werden. Er verbitte sich „verzweifelte Anrufe von Kollegen“, so der Präsident unter großer Heiterkeit des Hohen Hauses, „sie hätten gehört, ab Montag wäre das System wieder verfügbar, sie kämen nur nicht rein“. 

Mit dem Wiederhochfahren des auf dem BetriebssystemWindows von Microsoft basierenden Bundestagssystems „Parlakom“ geht eine der größten Spionageaktionen in Deutschland seit Kriegsende vorerst zu Ende. Unbekannte Hacker hatten sich Zugang zu den Bundestagsrechnern verschafft und die Kontrolle über das Netzwerk weitgehend übernommen. Ungehindert konnten sie etwa unter dem Namen Angela Merkel per Mail zu einer Telefonkonferenz mit der Kanzlerin einladen. Wer den Anhang der Mail öffnete – und es öffneten ihn alle – lieferte seinen Rechner den Unbekannten aus. 

Natürlich wird offiziell so getan, als ob nur geringer Schaden entstanden sei und als ob die Täter außer vielleicht ein paar Mails nichts abgegriffen hätten. Tatsächlich hatten sie aber die Möglichkeit, auf die infizierten Rechner zuzugreifen, die Daten zu kopieren, zu komprimieren, zu versenden und später auszuwerten. Der Bundestag sei „für Monate ein offenes Buch für die Angreifer“ gewesen, zitierte die Berliner Zeitung die Informatikerin Constanze Kurz vom „Chaos Computer Club“ . 

Späße sind daher fehl am Platz. Natürlich wird gewitzelt, der Bundestag, das Herz der deutschen Demokratie, sei tagelang offline, und das falle nicht einmal auf. Kaum oder gar nicht zum Lachen reizen Glossen wie von Zippert in der Welt, wo es hieß, „die Abgeordneten werden über ein Notstromaggregat notdürftig weiterbetrieben, befinden sich aber nur im Stand-by-Modus“. 

Denn vergleichen läßt sich der massive Datenklau am ehesten noch mit einer Operation der Vereinigten Staaten zu Zeiten des Kalten Krieges in Berlin. Damals trieben amerikanische Geheimdienste einen Tunnel unter die Sektorengrenze nach Ost-Berlin und zapften dort die unterirdisch verlegten Telefonleitungen der DDR-Regierung an. Monatelang hörten die Amerikaner die Telefonate der SED-Spitzengenossen mit, bis der Tunnel entdeckt wurde. Welcher Schaden durch die geklauten Daten im Bundestag schon entstanden ist oder noch entstehen wird, ist unklar. Vermutlich wird es die Öffentlichkeit nie erfahren. 

Abenteuerliche Verhältnisse zeigten sich während der Netzabschaltung. Es steht in den Büroräumen des Bundestages wie zum Beispiel im Jakob-Kaiser-Haus nicht einmal ein Funknetzwerk zur Verfügung, über das Abgeordnete und Mitarbeiter mit Handys, Tablets oder Laptops das Internet hätten nutzen können. Damit befindet sich der Bundestag, der sich sogar einen Ausschuß mit dem schönen Namen „Digitale Agenda“ leistet, tatsächlich noch im prädigitalen Schreibmaschinen- und Fax-Zeitalter.