© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Aktenberge sorgen für Haftverschonung
Hamburg: Die Freilassung zweier als Totschläger verurteilter Männer offenbart die Überlastung der Justiz der Hansestadt und bringt den Senat in Erklärungsnot
Michael Johnschwager

Aufsehen erregt in diesem Sommer in Hamburg ein Strafverfahren gegen zwei Totschläger. Das Verbrechen ereignete sich im Milieu zweier verfeindeter Familien mit Migrationshintergrund. Das 22 Jahre alte Opfer erlag kurz nach der Tat seiner Schußverletzung. Gegen die beiden Täter wurden Haftstrafen von zehneinhalb und sieben Jahren verhängt. Inzwischen befinden sie sich auf freiem Fuß – sie wurden  aus der Untersuchungshaft entlassen! Wie konnte es dazu kommen? Nach der Urteilsverkündung im Oktober 2014 verstarb der Richter. Die Verteidigung beantragte eine Revision, und somit war das Urteil nicht rechtskräftig. Infolge außergewöhnlicher Arbeitsüberlastung überschritt die mit dem Fall befaßte Amtsnachfolgerin die gesetzliche Frist. Dieses Versäumnis spielte den Totschlägern in die Hände. Ihre Verteidiger legten prompt Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer ein. Mit Erfolg. Das Hamburgische Oberlandesgericht (OLG) ordnete die unverzügliche Freilassung an. Die Richter hatten zuvor errechnet, daß die Justiz das Verfahren um sieben Wochen verzögert habe. Die Richter führten aus, daß gemäß einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts einem jeden Untersuchungshäftling das Recht auf ein faires und zügiges Verfahren zusteht.

Haarsträubende Zustände

Diese haarsträubenden Zustände verunsichern viele rechtstreue Hanseaten. Ihr Verständnis von Gerechtigkeit wurde empfindlich getroffen. Um dieser schwer zu vermittelnden Entwicklung entschlossen entgegenzutreten, gingen Strafrichter und Staatsanwälte an die Öffentlichkeit. Die erfuhr von dem dringend gebotenen Handlungsbedarf aus einem Brandbrief, den die Betroffenen an Hamburgs Justizsenator Till Steffen (Grüne) adressiert haben, einen ausgewiesenen Kenner der Materie mit einschlägiger Ressorterfahrung. Nun ist  sein Können gefordert, Richtern und Staatsanwälten die Instrumente, sprich mehr Personal, an die Hand zu geben, um Abhilfe zu schaffen. Und die Einsparungen auf den Prüfstand zu stellen.

Das jüngst an den Tag gelegte Agieren der Juristen hat ein Vorspiel. Seitens der Politik mußten sie sich vorhalten lassen, daß die Eingangszahlen rückläufig seien. Dabei wurde geflissentlich übersehen, daß die Verfahren immer komplexer geworden sind und damit ein erhöhter zeitlicher Aufwand entstanden ist.

In der Öffentlichkeit stellt sich der vor einem halben Jahr aus einer Koalition von SPD und Grünen gebildete Senat als effizienter Sachwalter dar. Aber mit dem Vorsitzenden des Hamburgischen Richtervereins, Marc Tully, verschafft sich ein Insider Gehör. Wenn also aus berufenem Munde harsche Kritik an den teilweise chaotischen Zuständen in Hamburgs Justiz formuliert wird, kann nicht die Rede davon sein, die Hansestadt werde „ordentlich regiert“. Diese Ansicht verkündet gebetsmühlenhaft Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) einem zunehmend skeptischer reagierenden Umfeld. Denn diese Aussage kann angesichts krimineller Umtriebe in der Elbmetropole nicht länger aufrechterhalten werden. Auf den Punkt gebracht: „Ordentlich regieren“ geht anders.

Deutliche Worte findet  Tully, der auch die Interessen von Staatsanwälten vertritt: „Entweder sind die Hamburgischen Richter alle fauler geworden, oder aber die Komplexität hat in einem Maße zugenommen, daß die Verfahren nur, jedenfalls nicht durchgängig, ausreichend gefördert werden können.“ Diese Worte wiegen um so schwerer, als sich Tully eine Reputation als äußerst akkurat verhandelnder Richter erworben hat. Überregional bekannt wurde er im Verfahren gegen einige Vorstandsmitglieder der HSH Nordbank.

Unmut herrscht unterdessen auch bei der Staatsanwaltschaft Hamburg. Dort türmen sich die Verfahren. Um die rekordverdächtigen  Aktenberge abzutragen, arbeiten deren Staatsanwälte auch von zu Hause aus und verbringen so manches Wochenende im Büro. Auch Urlaubszeit wird notgedrungen zweckentfremdet, um mehr Verfahren bearbeiten zu können. Auf die lange Bank geschoben werden in der Hansestadt mittlerweile „kleinere“ Delikte wie Körperverletzung. 

Nach dem spektakulären Fall um die Freilassung der beiden Männer, die für den Tod des 22jährigen verantwortlich sind, wächst in Hamburg die Zahl derer, die diese eklatanten Zuständen nicht länger hinnehmen wollen. Dadurch steigt die Chance, daß die auf eine Einhaltung der Gesetze verpflichtete Justiz nicht länger allein gelassen wird. Innerhalb des Justizapparats hat nicht erst der Tod des jungen Mannes zu der Einsicht geführt, daß das System am Rande der Arbeitsfähigkeit steht. In den Gerichten wächst nun die Hoffnung, daß sich auch die politischen Verantwortlichen dieser Einsicht nicht länger verschließen und die vorhandenen Ressourcen aufgestockt werden müssen. Jetzt kommt es darauf an, daß die daraus resultierenden Lösungsansätze nicht auf die lange Bank geschoben werden, sondern vielmehr zügig umgesetzt werden. Das hat offenbar auch Justizsenator Steffen erkannt. „Es ist mein Ziel, die Gerichte von weiteren Sparverpflichtungen auszunehmen“, teilte er aus seinem Urlaub mit.