© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Er glaubte an seinen Stern
Sprachskepsis und kosmischer Mystizismus: Vor hundert Jahren fiel der expressionistische Dichter August Stramm an der Ostfront
Felix Dirsch

Noch bevor sie ihr fünfzigstes Lebensjahr erreicht hatten, sind etliche dichterische Talente in Europa dem Aderlaß von 1914 bis 1918 direkt oder indirekt zum Opfer gefallen. Hermann Löns, Georg Trakl und Charles Péguy sind herausragende Beispiele für diesen kaum zu ermessenden „brain loss“.

Zu dieser Gruppe zählt auch der Schriftsteller August Stramm, dessen Name heute nur noch Fachleuten ein Begriff ist. Seine bürgerliche Existenz fristete der 1874 geborene Münsteraner im Dienste der Post. Studium (Stramm promovierte 1909) und literarisches Debüt (1902) fanden daher relativ spät statt. Wie viele expressionistische Kollegen verband er progressive Überzeugungen in seinem literarischen Werk mit konventionellem Lebensstil.

Auswege aus einer entgötterten Welt

Stramm wäre heute wahrscheinlich völlig unbekannt – wie ein Großteil der zahlreichen Vorkriegs- und Kriegsdichter, die insbesondere lyrische Texte zu Papier brachten –, hätte er nicht bereits vor 1914 maßgebliche Kontakte zur Zeitschrift Der Sturm geknüpft. Deren Herausgeber und Gründer, der aus jüdisch-großbürgerlichen Verhältnissen stammende Verleger, Galerist und Komponist Herwarth Walden, erkannte die Fähigkeiten Stramms und führte ihn mit anderen großen Geistern wie Paul Scheerbart, Richard Dehmel und Arno Holz zusammen.

Die Zeit um 1900 war eine Phase des Umbruches. Die Massengesellschaft galt nach Jahrzehnten der Industrialisierung längst als Realität. Lassen sich diese Tendenzen mit künstlerischen Idealen verbinden? Diese Frage stellte sich auch Stramm. Zu den wichtigen existentiellen Zielen, die der Literat, dessen Werk einen Bruch mit der Tradition darstellt, verfolgte, zählt die Suche nach den Auswegen aus einer entgötterten Welt. Statt überlieferten kirchlichen Lehrmeinungen Glauben zu schenken, öffnete er sich früh kosmisch-mystischen und esoterischen Traditionen. Diese ließen sich mit verbreiteten philosophischen Ansichten in Zusammenhang bringen. Der hegelianisch anmutende „Weltgeist“ erhielt Priorität gegenüber dem Gott des Glaubensbekenntnisses.

Stramm beschäftigte sich mit den seitens der Kirche lange Zeit verfemten Mystikern, von denen Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhart einen hervorragenden Rang einnehmen. Affinitäten zwischen Stramms Schaffen und theosophischen sowie monistischen Strömungen, die seinerzeit über kleinere Zirkel hinaus Wirkungen entfalten konnten, sind unübersehbar.

Dichter, die die Welt bald nach der Wende zum 20. Jahrhundert zu erfassen versuchten, standen vor einem Problem. Das Sein konnte nicht mehr als sinnhaft-kohärentes beschrieben werden. Hugo von Hofmannsthal bemerkte in seinem „Chandos-Brief“, daß ihm die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen. An diese berühmte Passage denkt man unwillkürlich, wenn man einige von Stramms Texten liest. Sie offenbaren mitunter das Gefühl der Verlorenheit des Verfassers im All: „All ist All / Nicht Sinn, nicht Verstand, / Nicht Sehen. Tasten hören! / Empfinden! Empfinden / Welch himmlisches Wort. / Wo sind Worte für die Worte. / Ich bin trunken. / Ich habe keine Worte nur Lallen. / Lallen! / Ich lalle das Weltall an / und das Weltall lallt!“ (August Stramm, 25. Februar 1915).

Die alte Grammatik taugte nach Meinung Stramms nicht mehr, um die Welt angemessen beschreiben zu können. Weitere wichtige Motive, die sich in seinen Gedichten häufen, drehen sich um Leben, Sexualität und Gewalt.

Er übte Kritik am Materialismus

Stramms Kritik an Positivismus und Materialismus zeigt Übereinstimmungen mit grundlegenden Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts, die in pointierter Weise von Wassily Kandinsky und Arnold Schönberg vertreten wurden. Ziel der genannten Denker war es, sich nicht äußeren Kategorien zu unterwerfen, sondern eine innere Ordnung zu finden. Weiter setzte Stramm sich mit Sprachphilosophie auseinander. Nietzsche, Vaihinger und Mauthner rezipierte er in diesem Kontext bevorzugt.

Stramm machte sich auch als Dramatiker einen Namen. Das kurze Stück „Sancta Susanna“, das in einem Kloster spielt, nimmt die Leibfeindlichkeit der Kirche aufs Korn. Die gleichnamige Ordensschwester erlebt eine rauschende Liebesnacht und wird kurzzeitig zur „Satana Susanna“. Ihr Heiland entbehrt eines Lendenschurzes. Gleichfalls spielt das polare Verhältnis von Mann und Frau eine zentrale Rolle.

Von den Prosatexten ist neben „Warten“ vor allem „Der Letzte“ zu erwähnen. Dieses Stück, dessen Entstehungsdatum ungeklärt ist, verdeutlicht die Mühsale des Krieges, die ein anonymer Held erleiden muß. Weil auf Wertungen, etwa pazifistischer Art, verzichtet wird, überkommt den Leser ein besonderes Gefühl von Beklommenheit. Selten sind die Schrecken mörderischer Auseinandersetzungen wirklichkeitsnäher dargestellt worden als in dieser Veröffentlichung, die Stramms eigenes Schicksal vorwegnimmt. Von einer generellen kriegskritischen Absicht kann man jedoch nicht sprechen.

In den turbulenten 1970er Jahren kam es auf einigen westdeutschen Bühnen zu Neuaufführungen von etlichen Stramm-Dramen. Es bleibt zu hoffen, daß Stramm, dessen Dichtung aufgrund des frühen Todes noch nicht ausgereift war, eine neue Wertschätzung jenseits germanistischer Spezialforschung auch in der unmittelbaren Gegenwart erfährt.

August Stramm: Gedichte. Dramen. Prosa. Briefe. Reclam, broschiert, 242 Seiten, 5,10 Euro