© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Nahtoderfahrungen
Hab keine Angst!
Heinrich Beck

Ist mit dem Tode „alles aus“? Zumindest aber: Erscheint ein Wissen darüber unmöglich? Dieses in unserer „aufgeklärten“ westlichen Kultur seit der Neuzeit vorherrschende Dogma wurde erschüttert, als vor 40 Jahren das Buch des amerikanischen Psychiaters Raymond A. Moody erschien: „Life after Life“, das international großes Aufsehen erregte und auch in der deutschen Übersetzung „Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung“ nach kurzer Zeit zu einem Bestseller wurde (16. Auflage 2014). Darin stellt der Verfasser bei Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten oder klinisch tot waren, eine Folge von „Jenseitserfahrungen“ fest, die von zahlreichen Wissenschaftlern auch anderer Nationen im wesentlichen bestätigt wurden und quer durch die verschiedensten Glaubensüberzeugungen und Kulturen fast identisch sind; sie haben, wie Moody beschreibt, auch in der Bibel, bei dem Philosophen Plato, im Tibetanischen Totenbuch und in Aussagen des schwedischen Naturforschers und Mystikers Emanuel Swedenborg eine Parallele.

In der Folge setzte – ausgelöst von Moodys „Provokationen“ – in aller Welt eine Fülle von entsprechenden Forschungen und Publikationen ein (die bekanntesten darunter Elisabeth Kübler-Ross, Gloria Polo, Pim van Lommel, Eben Alexander), dank derer heute das Phänomen der Nahtoderfahrungen aus der obskuren Ecke der Esoterik, in der es zu Unrecht angesiedelt wurde, heraus in die Sphäre des Allgemeinbekannten gerückt ist und weit offener und selbstverständlicher darüber gesprochen werden kann.

Die Frage eines „Fortlebens nach dem Tod“ erscheint für die Auffassung und Gestaltung unseres Lebens von höchster Wichtigkeit. Denn in diesem Falle hätten die Handlungen unseres Lebens letztlich eine „Ewigkeitsbedeutung“; die moralisch gute oder schlechte Verfassung, in die wir uns im Laufe unseres Lebens gebracht haben, hätte Geltung über unseren Tod hinaus und bestimmte unser endgültiges Glück oder Unglück. Unser Leben bekäme eine andere Dimension von Ernsthaftigkeit und Würde.

Ich möchte nun zuerst wichtige Ergebnisse der Nahtoderfahrungsforschung darstellen und dann in eine Auseinandersetzung eintreten, die in philosophischen Überlegungen mündet. Die Erfahrungen sind zwar meist durch die betreffende Kultur und die individuelle Glaubensüberzeugung mitgefärbt, stimmen aber in den wesentlichen Inhalten und großenteils auch in der zeitlichen Aufeinanderfolge überein; dabei können allerdings auch Abweichungen von der Regel vorkommen, einzelne Etappen vertauscht werden oder ganz ausfallen.

Ich will nun versuchen, die Inhalte in einer logischen Sukzession nach fünf Etappen zu skizzieren:

I. Zunächst wird ein „Austritt des Ich-Bewußtseins aus dem physischen Körper“ erlebt: wie ein „Gleiten durch einen Tunnel“, wobei oftmals Geräusche zu hören sind; das „Ich“ stellt die „Seele“, das innerste belebende Prinzip des Leibes dar.

II. Sodann nimmt das Ich außerhalb seines materiellen Körpers sich selbst und seine Umgebung wahr. Man sieht sich in einer anderen Art von „Leib“ („Lichtleib“, „Äther-“ oder „Astralleib“), der völlig „schwerelos“ ist und keine „Festigkeit“ besitzt; Wände und Türen bieten keinen Widerstand, und durch bloßen Willensentschluß kann man an beliebigen Orten sein. Dieser „Leib“ ist in gewisser Hinsicht vollkommener als der verlassene physische Körper, dessen etwaige Defekte nun verschwunden sind. Die „niederen“, mehr körpergebundenen Sinne (wie der Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn) sind erloschen, die „höheren“, geistnahen Sinne (wie der Gesichts- und der Gehörsinn) sind verfeinert und das Denken von großer Klarheit.

Man sieht seine Umgebung, aber aus einer anderen Perspektive; zum Beispiel berichtet Moody, daß eine Frau während ihres klinischen Todes im Krankenhaus von der Zimmerdecke aus wahrnahm, wie eine Krankenschwester mit hinten kurz geschnittenen Haaren an dem daliegenden Körper eine Mund-zu-Mund-Beatmung versuchte – was dann später bestätigt wurde. Das vom Körper getrennte Ich nimmt auch die stattfindenden Gespräche auf (wobei es manchmal die Gedanken der anderen unmittelbar in seinem Bewußtsein erfaßt); es kann sich aber selbst nicht bemerkbar machen.

III. Man erlebt eine Welt ungekannter Harmonie und Schönheit. In ihr begegnet man anderen Personen von derselben Leiblichkeit, vor allem den Seelen von vorverstorbenen Menschen, die man im Leben gekannt hatte und die nun bei der Orientierung im Jenseits behilflich sind. Teils werden auch Wesenheiten von einer höheren geistigen Mächtigkeit und Strahlkraft wahrgenommen – die Engel?

Alles aber überstrahlt die Begegnung mit einem „Lichtwesen“, von dem eine grenzenlose Liebe und zugleich Majestät ausgeht. Es stellt an die neu eintretende „Seele“ eine Frage etwa in dem Sinne: „Was hast du aus deinem Leben gemacht, das du mir jetzt vorweisen kannst?“

IV. Alles aber überstrahlt die Begegnung mit einem „Lichtwesen“ ohne abgrenzbare Körperlichkeit, das unvergleichlich heller leuchtet als die Sonne, aber nicht blendet. Von ihm geht eine grenzenlose Liebe und zugleich Majestät aus. Es stellt an die neu eintretende „Seele“ eine Frage (nicht in menschlichen Worten), etwa in dem Sinne: „Was hast du aus deinem Leben gemacht, das du mir jetzt vorweisen kannst?“ (Emanuel Swedenborg und andere deuten dieses Wesen mit Hinweis auf die christliche Osterliturgie als Jesus Christus; es wird aber auch von Nichtchristen erfahren.)

V. Anschließend setzt ein Rückblick auf das ganze vergangene Leben ein, das wie ein Kurzfilm im Bewußtsein Revue passiert, wobei einige besonders bedeutsame Ereignisse hervorgehoben werden. Das „Lichtwesen“ bleibt im Hintergrund und gibt Kommentare – aber ohne bei Erinnerung an negative (zum Beispiel „egoistische“) Handlungen zu verurteilen, sondern etwa lediglich zu bemerken, daß man auch aus ihnen „gelernt“ habe.

Es ist allerdings auch anzumerken, daß es Erfahrungen gibt, die ausgesprochen grauenhaft verlaufen („Höllenerfahrungen“) und die an entsprechende Schilderungen in Dantes „Göttlicher Komödie“ oder an die altgriechische mythologische Figur des Tantalos erinnern, der als Strafe für sein frevelhaftes Leben zu ewiger Qual verdammt wurde. Während das Nahtoderlebnis für die Menschen, die sich um ein moralisch gutes Leben bemüht hatten, in der Gegenwart des Licht- und Liebewesens unbeschreiblich beseligend war, handelt es sich hier meist um Menschen, deren Leben (trotz einiger guter Taten) zur Gänze als „böse“ zu bezeichnen ist.

Mit der unter der Regie des „Lichtwesens“ zustandegekommenen Selbstbeurteilung, einer vertieften Ausrichtung auf das Schenken von Liebe und mit einer neuen Sicherheit (man hat keine Angst mehr vor dem Tode!) vollendet sich die „Nahtoderfahrung“. Die Seele gelangt an eine Schranke oder Grenze und kehrt – meist aus eigenem Entschluß (obwohl die Erfahrung vielleicht über alle Maßen beglückend war) – in ihren Körper zurück: etwa weil das physische Leben nach seinem ursprünglichen Auftrag noch nicht abgeschlossen war oder weil vom Lichtwesen neue Aufgaben zugeordnet werden.

Ich möchte nun in einem zweiten Teil der Betrachtung mich mit den Ergebnissen der Erfahrungsforschung auseinandersetzen und dabei zunächst mögliche Einwände ansprechen:

So läßt sich annehmen, daß unser geistiges Leben über die Grenzen von Raum und Zeit hinausgeht und sich auf eine Erfüllung durch unbegrenzte und unbedingte Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe richtet, womit ein Vorbegriff von Gott erreicht wäre.

I. Eine neurologische Erklärung versucht die Erfahrungskette auf Vorgänge im Gehirn beziehungsweise im Nervensystem zurückzuführen. Aber: Nach unserer Wahrnehmung ist das Körperliche (wie Gehirn/Nerven), jedoch nicht das Psychische (beziehungsweise das im Bewußtsein Gegebene) räumlich ausgedehnt; es hat beispielsweise keinen Sinn zu fragen, wie viele Zentimeter ein freudiger Gedanke messe, der mit der Erregung eines Gehirn- beziehungsweise Nervenbereichs einhergeht. Es handelt sich um wesentlich verschiedene Seinsweisen, von denen die eine nicht auf die andere zurückgeführt werden kann, ohne die Wahrnehmungsgegebenheiten zu vergewaltigen.

II. Ein weiterer Einwand: Es könnte scheinen, daß bei einer Ausdehnung der Erfahrungen in Todesnähe auf den Tod selbst die Tragweite dieser Erfahrung überschätzt und die Erfahrung „überfordert“ wird: daß man also aus entsprechenden Erfahrungen diesseits der Todesgrenze nicht schon ableiten darf, daß der Mensch (oder sein geistig-seelischer Wesensanteil) auch jenseits der Todesgrenze fortexistieren kann.

Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß bei den Nahtoderfahrungen die Seele als Trägerin des Ich-Bewußtseins bereits aus dem physischen Körper ausgetreten ist; ich erinnere nochmals an das Beispiel Moodys von der Frau, die während ihres klinischen Todes eine Wahrnehmung von der Zimmerdecke her hatte. Zwar ist gleichsam die „silberne Schnur“, durch die die Seele mit ihrem physischen Körper verbunden ist, noch nicht gerissen. Aber das Entscheidende liegt wohl darin, daß sie außerhalb ihres Körpers überhaupt existieren kann, wie das genannte Beispiel zeigt – und dabei scheint es nicht wesentlich, ob sie noch jene Verbindung mit ihrem Körper hat oder nicht. Die „silberne Schnur“ erscheint nur als die Bedingung, aufgrund deren sie ohne weiteres wieder zurückkehren kann. Man vergleiche zur Bestätigung oben den Hinweis auf Parallelen im Tibetanischen Totenbuch und bei Plato, zur Begründung die anschließende philosophische Argumentation.

III. Das Verständnis der dargestellten Erfahrungen in ihrem Aussagegehalt und in ihrer Relevanz für das „Jenseits der Todesgrenze“ wird noch wesentlich vertieft durch folgende philosophische Gesichtspunkte:

Zunächst: Nach dem „Gesetz von der Erhaltung der Energie“ geht Energie bei Veränderungen nie verloren, sondern wandelt sich nur in ihrer Daseinsform. Dementsprechend liegt es nahe, anzunehmen, daß auch das Ich-Bewußtsein des Menschen als „geistige Energie“ bei seinem Tode nicht verschwindet, sondern in körperloser Form erhalten bleibt.

Ferner: In meinem Ich-Bewußtsein sind „ich als der mich Wissende“ und „ich als der von mir Gewußte“ (also ich als „Subjekt“ meines Ich-Bewußtseins und ich als „Objekt“ meines Ich-Bewußtseins) nicht zwei verschiedene „Teile“ meiner selbst, sondern identisch. Ebensowenig kann man sagen, daß ich als Erkennender einerseits und meine Erkenntnisakte andererseits sich wie verschiedene Teile verhalten, aus denen ich „zusammengesetzt“ wäre. Ich bestehe hinsichtlich meines Ich-Bewußtseins nicht aus Teilen, in die ich mich „auflösen“ könnte.

Und schließlich ein drittes Argument: Die Ernsthaftigkeit menschlicher Existenz zeigt sich im Fragen und Suchen nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Akzeptanz usw. Diese Werte besagen aber nicht von sich aus etwas irgendwie Begrenztes; wo wir auf Grenzen stoßen, empfinden wir uns unbefriedigt. So kann man annehmen, daß unser geistiges Leben über die Grenzen von Raum und Zeit hinausgeht und sich auf eine Erfüllung durch unbegrenzte und unbedingte Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe richtet (womit ein Vorbegriff von Gott erreicht wäre). Darin liegt wohl eine tiefe Sinnperspektive eines „Seins jenseits der Todesgrenze“.

Durch weitere philosophische Reflexion tritt deutlich hervor, daß die Seele als Lebensprinzip und Sitz des Ich-Bewußtseins den vorrangigen Wesensbestandteil des Menschen darstellt, aber auch auf Ergänzung durch eine entsprechende physische Körperlichkeit wesentlich angelegt ist; denn die psychischen Akte, wie etwa die Liebe, erreichen erst dann ihre volle menschliche Wirklichkeit, wenn sie auch „leibhaftig“ werden.

So erscheinen auch die Annahme einer einstigen „Rückergänzung“ zur Ganzheit der menschlichen Person, das heißt einer möglichen „Reinkarnation“ und mehr noch der christliche Glaube einer endgültigen „Auferstehung von den Toten in einem der Unsterblichkeit der Seele angemessenen unverweslichen physischen Leib“ – als Teilnahme an der Auferstehungsleiblichkeit Jesu Christi – von unserem philosophischen Ansatz her sinnvoll.






Prof. Prof. h. c. mult. Dr. Dr. h. c. Heinrich Beck, Jahrgang 1929, lehrte Philosophie an der Universität Bamberg und war Gastprofessor an zahlreichen Universitäten des In- und Auslandes. Auf dem Forum schrieb er zuletzt eine philosophische Betrachtung über Evolution („Aus göttlicher Quelle“, JF 13/08).