© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Bewahrung und Vergegenwärtigung des geistigen Erbes
Ostdeutsches Jahrhundertwerk: Zum Abschluß der Altpreußischen Biographie
Georg Drews

Die durch das Versailler Diktat und die übrigen Pariser Vorortverträge geschaffene europäische Unordnung zog vor allem im Osten Deutschlands „blutende Grenzen“. Jenseits davon litten deutsche Minderheiten unter Repressionen in den neu erstandenen Nationalstaaten: Polen, Litauen, Tschechoslowakei. Diesseits bildete sich in den preußischen Ostprovinzen das Sonderbewußtsein des „Grenzlanddeutschtums“ heraus, das eigentümlich zwischen trotzigem Selbstbehauptungswillen und nationaler Verzagtheit schwankte, weil man glaubte, auf „gefährdetem Vorposten“ im übrigen Reich, in der Hauptstadt Berlin zumal, nicht ausreichend Rückhalt zu finden.

Bevor sich diese Stimmungslage zu einer Krise der kollektiven Identität ausweiten konnte, trat in den frühen zwanziger Jahren ein kleines Heer von Geisteswissenschaftlern, Historiker vornehmlich, auf den Plan, um im Medium der Landes- und Heimatgeschichte die regionale und damit letztlich die nationale Identität der Sudetendeutschen, der Schlesier, Brandenburger und Pommern, der Ost- und Westpreußen zu festigen. Da sich das Interesse an Vergangenheit auch vor hundert Jahren schon am leichtesten durch Vergegenwärtigung menschlicher Schicksale wecken ließ, bot sich ihnen die Biographie als didaktisch ideales Format an.

Am schnellsten hatte die erst 1921, zur Zeit der Teilung Oberschlesiens, gegründete Historische Kommission für Schlesien diese „vaterländische Hauptaufgabe“ in Angriff genommen. 76 Porträts herausragender Persönlichkeiten zunächst des 19. Jahrhunderts, von Gustav Freytag bis zu Ferdinand Lassalle und Friedrich Schleiermacher, versammelte sie im 1922 veröffentlichten ersten Band ihrer „Schlesischen Lebensbilder“, dem bis 1931 noch drei weitere folgen sollten.

In Königsberg schloß man zu den Breslauer Kollegen mit der im Mai 1923 konstituierten Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung zwar organisatorisch rasch auf, aber das „Biographische Lexikon aller namhaften Ost- und Westpreußen“, das neben einer landeskundlichen Bibliographie, dem Preußischen Urkundenbuch und einem Atlaswerk zu den vordringlichsten Projekten der jungen Gelehrtenvereinigung zählte, wollte nicht vorankommen. 

Den Königsberger Stadtbibliothekar Christian Krollmann, der die Kommission mit ins Leben gerufen hatte, der von 1926 bis 1944 dem Verein für die Geschichte von Ost- und Westpreußen vorsaß und dem die Redaktion des „Biographischen Lexikons“ anvertraut worden war, traf an diesem schleppenden Fortgang keine Schuld. Vielmehr reagierten das preußische Kultusministerium und Reichsbehörden wie das Auswärtige Amt, die man stets unter Verweis auf die „nationalpolitische“ Bedeutung und die Notwendigkeit „wissenschaftlicher Abwehr“ des historisch bemäntelten polnischen Expansionismus um finanzielle Unterstützung der Kommissionsarbeit bat, eher harthörig und geizig auf solche Hilferufe. 

Daher betreute Krollmann das Lexikon bis zum Eintritt in den Ruhestand (1932) nur in seinen Mußestunden. Und danach war es erst recht lediglich seiner privaten Initiative zu danken, daß 1936, unter dem definitiven Titel „Altpreußische Biographie“ (APB), endlich Probelieferungen des ersten Bandes (A bis L) in den Druck gingen. Bis 1941 verzögerte sich dann abermals das Erscheinen des kompletten Bandes. Vom zweiten Band (M bis Z) publizierte Krollmann bis zu seinem Tod im Juli 1944 immerhin noch drei bis zum Buchstaben P reichende Lieferungen. 

Jahrhundertwerk nach 1945 im Westen fortgeführt

Der Untergang Ostpreußens bedeutete jedoch nicht das Ende des Unternehmens. Der ehemalige Königsberger Staatsarchivar Kurt Forstreuter und der Königsberger Stadthistoriker Fritz Gause ergriffen die Stafette im Auftrag der in Westdeutschland neu gegründeten Historischen Kommission und vollendeten bis 1967 nicht nur den zweiten Band, sondern bestückten aus ihrem Material bis 1975 sogar einen Ergänzungsband. Obwohl damals, im Zeichen der sozialliberalen „Ostpolitik“, die Erinnerung an Geschichte und Kultur der Vertreibungsgebiete bereits quer zum Zeitgeist stand, legten Ernst Bahr und Gerd Brausch unverdrossen einen vierten Band auf Kiel, der 1995 vom Stapel lief. 

Erschöpft war das Reservoir der „namhaften“ Ost- und Westpreußen damit bei weitem nicht, zumal Kritiker gern Biographien des ost- und westpreußischen Führungspersonals zwischen 1933 und 1945 anmahnten. Unter der Ägide des aus Osterode stammenden Husumer Oberstudienrats Klaus Bürger, wie Krollmann und dessen Nachfolger ein ehrenamtlicher Enthusiast, bemühten sich die Beiträger eines fünften Bandes, gerade diese Lücken zu schließen, so daß die APB nun auch über die Lebensläufe des berüchtigten Gauleiters Erich Koch, Ostpreußens Henker, seinen Danziger Nachbarn Albert Forster und weitere NS-Größen aufklärt.

Klaus Bürger erlag 2010 einer tückischen Krankheit, ohne die von ihm geplante dritte Lieferung des Bandes abgeschlossen zu haben. Der pensionierte Berliner Staatsarchivar Bernhart Jähnig, langjähriger Kommissionsvorsitzender und renommierter Historiograph des Preußenlandes, übernahm die 17 Kartons des Bürgerschen APB-Nachlasses, aus deren Inhalt er den letzten Baustein eines Jahrhundertwerks formte, das in diesem Sommer seinen hoffentlich nur vorläufigen Abschluß gefunden hat.

Zwangsläufig verschob sich nach 1945 der geschichtspolitische Schwerpunkt des Langzeitprojekts. Nicht mehr regionalhistorisch ansetzende Kräftigung der nationalen Identität im „Grenzkampf“, sondern Bewahrung des geistigen Erbes der 700jährigen deutschen Kultur Ost- und Westpreußens war das Ziel. Mit diesen Tausende von Biographien enthaltenden Bänden, Grundlagenforschung im besten Sinne, ist ein solides Fundament geschaffen worden, um das Erbe zu pflegen und zu mehren. 

Klaus Bürger, Joachim Artz, Bernhart Jähnig (Hrsg.): Altpreußische Biographie, Band V, 3. Lieferung, Elwert Verlag, Marburg 2015, gebunden, Seite 1.995 bis 2.366 des Gesamtwerks, 120 Euro