© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Eigentümlich eigenwillig
Der Nationalrevolutionär und Religionsphilosoph Friedrich Hielscher im biographischen Fokus
Karlheinz Weißmann

Wenn innerhalb von zehn Jahren drei wissenschaftliche Arbeiten über eine so marginale Gestalt der Zeit- und Geistesgeschichte wie Friedrich Hielscher erscheinen, ist das erklärungsbedürftig. Zu verstehen ist der Tatbestand weder unter Hinweis auf die Aktualität der von Hielscher aufgeworfenen Fragen noch durch einen Bezug auf die anhaltende Wirksamkeit der Impulse, die von seinem Wirken ausgegangen sind. Naheliegender ist es, gerade das Abseitige und Bizarre seiner Person wie seiner Weltanschauung als ausschlaggebend zu betrachten. 

Das eine wie das andere sorgt offenbar dafür, daß von ihm eine bleibende Faszinationskraft ausgeht. Zu einem anderen Schluß kommt man auch nicht nach Lektüre des Buches von Kurt M. Lehner, dessen Untertitel „Nationalrevolutionär, Widerständler, Heidenpriester“ die entscheidenden Stationen im Leben Hielschers präzise umreißt: Alles begann mit dessen Entschluß, nach dem Studium und einer glänzenden Promotion im Fach Jura, auf eine bürgerliche Karriere zu verzichten und seine beträchtlichen intellektuellen Fähigkeiten darauf zu verwenden, dem „neuen Nationalismus“ der zwanziger Jahre einen Überbau zu verschaffen. 

Dabei irritierte Hielscher seine Zeitgenossen früh dadurch, daß seine Vorstellung von „Nation“ und mithin „Nationalismus“ wenig mit der üblichen zu tun hatte und seine Forderung nach deutscher „Erdherrschaft“ wenig mit dem, was für gewöhnlich unter Politik verstanden wurde. Die Bewunderung nicht nur eines Franz Schauwecker oder Ernst von Salomon, sondern auch der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger konnte deshalb nicht verhindern, daß Hielscher immer ein Außenseiter der „Szene“ blieb, zwar mit seinen ungewöhnlichen Thesen – etwa der Forderung nach einem Weltbündnis der unterdrückten Völker gegen „den Westen“ – Aufsehen erregte, aber jedes publizistische Projekt nach kurzer Zeit zum Scheitern brachte, und immer entschlossen war, die in ihn gesetzten Erwartungen als Aktivist zu enttäuschen.

Hielschers Gefolgschaft war höchst überschaubar

Dahinter stand spätestens seit Hielschers Arbeit an seinem Hauptwerk „Das Reich“ (1931) die Vorstellung, daß das entscheidende Feld überhaupt nicht der Staat, sondern die Religion sei. In der Folge konzentrierte er sich auf die Schaffung eines Bundes, der in vielen Zügen Ähnlichkeit mit dem des verhaßten Konkurrenten Stefan George hatte, aber in seinem Anspruch weit darüber hinausging. Hielschers Anhängerschaft sollte als Nukleus einer neuen Glaubensgemeinschaft dienen, an deren Praxis er bemerkenswerterweise mehr Interesse hatte als an einer theoretischen Grundlegung. 

In dem Band von Lehner werden Aspekte der Liturgie breit dokumentiert. Diese Orientierung steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch zu Hielschers Absicht, nach dem Scheitern der Weimarer Republik und der Machtübernahme Hitlers das NS-Regime zu infiltrieren. Dessen Illegitimität beruhte nach Hielschers Meinung vor allem darauf, daß es seinen Anspruch auf Führung bestritt. 

Der Unterwanderungsversuch hatte zwar sicher stärkere Auswirkungen als Lehner deutlich ist, aber die Konspiration konnte schon wegen des sehr beschränkten zahlenmäßigen Umfangs der Gruppe Hielschers – etwa fünfzig bis sechzig Personen – und trotz der Kontakte zu anderen Gruppen der Opposition keine Aussicht auf echte Erfolge haben. Einen Mann von Hielschers Selbstbewußtsein hat aber weder dieses Scheitern noch der von ihm mitverschuldete Tod seines wichtigsten Gefolgsmanns, Wolfram Sievers, der in seinem Auftrag die Geschäftsführung der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ übernommen hatte, noch der sukzessive Zerfall seiner „Unabhängigen Freikirche“ in der Nachkriegszeit an den eigenen Ansprüchen irre werden lassen.

Sachverhalte, die wie das Durcheinander in Hielschers Dogmatik und das Schwanken zwischen priesterlichem Gestus und Schalk eine gründlichere Analyse wert gewesen wäre, als Lehner sie liefert. Man wird dem Autor zwar zugestehen, daß er sich von den ideologischen Verstiegenheiten einer Ina Schmidt („Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus“, Köln 2004) fernhält und sein Ansatz ein anderer ist als derjenige Peter Bahns („Friedrich Hielscher 1902–1990. Einführung in Leben und Werk“, Schnellbach 2004), der vor allem die Theologie Hielschers analysierte.

Aber es bleibt doch festzuhalten, daß Lehner den zeitgenössischen Darstellungen oft allzu unkritisch folgt, die Literatur nicht gründlich genug kennt und keine Perspektiven aufweist, die bei der bisherigen Beschäftigung mit Hielscher übersehen wurden. Die müßten sich vor allem auf die immanenten Ursachen seiner Erfolglosigkeit konzentrieren, unter denen vor allem zwei hervorzuheben sind: erstens die dogmatische Starre, obwohl das Lehrgebäude dauernd im Fluß blieb, zweitens das völlige Fehlen von echten Führungsqualitäten trotz des päpstlichen Anspruchs. 

So hat Hielscher zwar gegenüber Außenstehenden ein großes Geheimnis um seine Konzeption gemacht, konnte aber nicht verhindern, daß durch enttäuschte Anhänger bekannt wurde, in welchem Ausmaß er seine Verkündigung abänderte, von den germanischen Göttern zu den keltischen überging und schließlich bei einem Monotheismus landete, der sich auf irritierende Weise jüdischer Formeln bediente. Dazu kam noch der dramatische Wechsel in bezug auf die Lehre vom unfreien hin zum freien Willen, das Ganze weiter kombiniert mit einer Art rationalistischer Esoterik und schließlich noch bereichert um Vorstellungen der Freimaurerei. 

Schon während des Zweiten Weltkriegs kam es zur Abwendung – 1948 sogar zu einer Art Revolte, die mit dem Rückzug Hielschers endete –, nicht nur wegen der Widersprüchlichkeit der Theologie, sondern auch weil die Elemente des Kultes permanent korrigiert wurden und die Arkandisziplin absurde Formen annahm. Niemand außer Hielscher wußte, welchen zahlenmäßigen Umfang die Gemeinschaft hatte, und ein hierarchisches System von „Enkeln“, „Söhnen“, „Vätern“ und „Großvätern“ führte dazu, daß die jungen Frontoffiziere in bezug auf die Bewertung des Kriegsverlaufs kein Wort mitzusprechen hatten, sondern sich stattdessen die Weisung ihres ungedienten Meisters und der Älteren ohne militärische Erfahrung demütig anhören mußten. 

Wahrscheinlich trifft der Verdacht zu, den ein Ehemaliger geäußert hat, daß nämlich das ganze Geheimnis, das Hielscher um seine „Kirche“ machte, vor allem mit Angst vor der Bewährung an der Wirklichkeit zu tun hatte. Ein Umstand, der bei verhinderten Religionsstiftern nicht selten anzutreffen ist, der aber in der bisher erschienenen Literatur über Hielscher zu wenig Beachtung findet. Das gilt auch für das Buch von Lehner. Es bleibt insofern eine lesbare, etwas zitatlastige, der Politischen Korrektheit Referenz erweisende, aber von schwerwiegenden Fehlern oder Auslassungen freie Einführung in das Thema, nicht mehr und nicht weniger.

Kurt M. Lehner: Friedrich Hielscher.  Nationalrevolutionär, Widerständler, Heidenpriester. Schöningh Verlag, Paderborn 2015, broschiert, 233 Seiten, 29,90 Euro