© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Ta-Nehisi Coates. Der US-Intellektuelle nennt das weiße Amerika ein „Verbrechersyndikat“
Der Zornige
Wolfgang Kaufmann

Als der weiße Rassist Dylann Roof am 17. Juni dieses Jahres neun schwarze Amerikaner in der Mother Emanuel Church in Charleston erschoß, war der Journalist und Autor Ta-Nehisi Coates der erste, der als Konsequenz aus dem Amoklauf verlangte, endlich die Flagge der Konföderierten vor dem Parlament in der Hauptstadt von South Carolina zu entfernen. Kurz darauf diskutierte das ganze Land über diese Forderung, womit sich einmal mehr bestätigte, daß Coates eine der führenden moralischen Instanzen der USA in Rassenfragen ist.

Hierzu avancierte der Afroamerikaner vor allem, weil er in Blättern wie The Atlantic, Time, oder Washington Post immer wieder den einstigen und gegenwärtigen Umgang der Weißen mit den Schwarzen gegeißelt und medienwirksam Reparationen für die Sklaverei gefordert hat.

Dabei hielten sich die persönlichen Diskriminierungserfahrungen von Coates, der 1975 in eine Mittelschichtfamilie in Baltimore hineingeboren wurde, durchaus in Grenzen: Nach einer unspektakulär verlaufenen Kindheit studierte er an der renommierten privaten Howard University in Washington D.C. (wo sein Vater, ein früherer Black-Panther-Aktivist, als Bibliothekar arbeitete). Und er machte später auch trotz fehlendem Studienabschluß Karriere bei der Presse.

Dennoch sieht Coates die Lebenswirklichkeit schwarzer Amerikaner extrem negativ und pessimistisch. Deutlichster Ausdruck dessen ist sein Essay „Between the World and Me“, der vier Wochen nach den Schüssen von Charleston erschien, aber letztlich das Ergebnis von anderthalb Jahren Arbeit ist. Darin bezeichnet Coates die Vereinigten Staaten, die er das „weiße Amerika“ nennt, als „Verbrechersyndikat“, das sich zu dem Zweck zusammengeschlossen habe, die Körper der Schwarzen „zu dominieren und zu kontrollieren“. Dies sei zur Zeit der Sklaverei so gewesen, und dies sei es trotz der Erfolge der Bürgerrechtsbewegung auch heute noch so. Damit landete Coats einen veritablen Erfolg: Seine Schrift wurde von großen US-Medien nicht nur weitestgehend widerspruchslos, sondern oft sogar begeistert rezipiert. 

Was sich zunächst wie ein Angriff auf das konservative Amerika liest, entpuppt sich bei näherer Betrachtung allerdings – wenn wohl auch unfreiwillig – als massive Infragestellung der Idee von einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Denn wenn nach fünf Jahrzehnten der Aufhebung der Rassentrennung und positiven Diskriminierung der Afroamerikaner immer noch so starke Ressentiments und Unterdrückungsgefühle auf seiten der Schwarzen bestehen, kann man in Westeuropa, das sich ebenfalls die praktische Umsetzung der Ideale des Multikulturalismus auf die Fahne geschrieben hat, eigentlich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Gerade in Deutschland sollte man diese Quintessenz von Coates’ Essay aufmerksam registrieren.