© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Kapitulation vor den politisch Korrekten
US-Universitäten: Im Minenfeld von Dienstleistungsgebaren und „unangemessener“ Sprache ist von einem normalen wissenschaftlichen Lehrbetrieb kaum noch etwas übriggeblieben
Elliot Neaman

Immer wieder werden Warnungen von Bildungsexperten laut, amerikanische Universitäten seien im Laufe der vergangenen dreißig Jahre von Hochburgen der Forschung und Wissenschaft zu mehr oder weniger exklusiven Clubs verkommen, in denen 18- bis 21jährige vier Jahre lang diversen Sportarten und anderen gemeinsamen Aktivitäten nachgehen können. 

So alarmistisch diese Bedenken für Außenstehende klingen mögen, lassen sie sich doch nicht so ohne weiteres entkräften. Unbestreitbar ist, daß Universitäten mittlerweile neben dem Lehrpersonal einen ganzen Troß von Verwaltungs- und anderen nicht-akademischen Kräften unterhalten, die für das physische und psychische Wohl der Studierenden zuständig sind.

Autorität der Professoren wird untergraben

Die Campus-Uni des 21. Jahrhunderts besteht aus Dienstleistungsangeboten, die weit über den reinen wissenschaftlichen Lehrbetrieb hinausgehen: Feinschmecker-Restaurants anstelle der drögen Kantinen, Unterkünfte auf Drei-Sterne-Standard anstelle der Wohnheimzimmer mit zwei Betten, allerlei Therapeuten, Berater für Dies und Das sowie Interventionsexperten anstatt der Krankenschwester und dem Sozialpsychologen. 

Aus Studierenden sind Kunden mit der entsprechenden Anspruchshaltung geworden, deren empfindliche Seelchen gepflegt und gehegt werden wollen. Eltern, die an einer durchschnittlichen Privatuni bis zu 30.000 US-Dollar allein für Studiengebühren springen lassen, erwarten dafür, daß ihre Sprößlinge nach Strich und Faden verwöhnt und von vorne bis hinten bedient werden.

Eine schwerwiegende Nebenwirkung dieser Entwicklung ist die Herabwürdigung ehrwürdiger Professoren zu bezahlten Nachhilfelehrern, denen kaum mehr Autorität zugestanden wird als einem Schwimmtrainer. Auch der Lehrplan wird auf die Bedürfnisse der Käufer zugeschnitten. 

Nach den neuen Regeln des Campus Country Club müssen die jungen Erwachsenen zudem von allem ferngehalten und geschützt werden, das womöglich ihre zarten Empfindungen kränken oder verstören könnte. Diese Maßgabe wiederum führt zu einer feigen bedingungslosen Kapitulation vor einer neuen Art von politischen Korrektheit: In ihrer ursprünglichen Ausprägung ging es in den 1980er Jahren darum, sprachliche Aggressionen gegen Gruppen (Frauen, ethnische Minderheiten ) auszumerzen.

 Die neue Form der politischen Korrektheit ist insofern sehr viel heimtückischer, als sie Einzelpersonen, die sich in irgendeiner Weise sprachlich beleidigt oder belästigt fühlen, ermöglicht, rechtliche Mittel gegen den angeblichen Aggressor zu ergreifen. Durch den Erlaß von Gesetzen, die die Definition von „unwelcome speech“ (unerwünschte Sprache) derart ausweitet, daß sich beinahe jede beliebige Handlung als Belästigung auslegen läßt, hat die Washingtoner Regierung die Lage noch verschlimmert.

Seine skurrilsten Auswirkungen hat dieser Wandel auf dem ohnehin belasteten Gebiet der Beziehungen zwischen den Geschlechtern gezeitigt. Seit Jahren rufen Aktivisten und vor allem Aktivistinnen medienwirksam zum Kampf gegen eine angebliche Seuche von Vergewaltigungen auf dem Campus. Viel Aufsehen erregte die Veröffentlichung von Zahlen, denen zufolge jeder fünften Amerikanerin zwischen 18 und 24 auf einem Campus sexuelle Gewalt widerfahren sei. Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, daß der Begriff der sexuellen Gewalt so weit gefaßt ist, daß darunter auch die Schuld- oder Reuegefühle fielen, die die Befragten nach dem Geschlechtsverkehr mit einem männlichen Kommilitonen empfanden. Amtliche Statistiken setzen die Gesamtzahl aller gemeldeten und ungemeldeten Fälle von Vergewaltigung an College-Studentinnen zwischen 18 und 24 im Zeitraum zwischen 1995 und 2011 mit 0,6 Prozent erheblich niedriger an. Bei gleichaltrigen Amerikanerinnen, die nicht auf dem Campus leben, lag diese Zahl bei 0,8 Prozent.

Kaum Berufschancen für Unangepaßte 

Der Rolling Stone veröffentlichte kürzlich einen Bericht über eine nur als „Jackie“ bezeichnete Frau, die im Haus eines Studentenbundes an der University of Virginia vergewaltigt worden sei und anschließend vergeblich versucht habe, die Schuldigen anzuzeigen. Wie sich herausstellte, hatte die Zeitschrift es so sehr an journalistischer Sorgfalt mangeln lassen, daß sie den Beitrag zurückziehen mußte – sehr zum Schaden ihres Rufs für investigative Berichterstattung. 

An zahlreichen Universitäten führten die weitverbreiteten Legenden über die Vergewaltigungsgefahr soweit, daß die Verwaltungen neue Ermittlungsverfahren einführten, die den Angeklagten jeglichen Rechtsschutz verweigern.

Der Feminismus der 1960er und 1970er Jahre wollte Frauen aus dem Korsett erdrückender Traditionen und Bräuche befreien. Heute deuten viele Anzeichen darauf hin, daß die jungen Frauen der nächsten Generation sich nach dem Puritanismus einer früheren Zeit zurücksehnen und Männer nicht als Partner auf Augenhöhe, sondern vielmehr als gefährliche sexuelle Raubtiere wahrnehmen, die sich nur durch gesetzliche und normative Zwänge bändigen lassen. An den philologischen Fakultäten treibt dieser Geist auch in den Seminarräumen sein Unwesen: Immer wieder beschweren sich Studierende über die Beschreibungen sexueller Akte, körperlicher Gewalt und Begierden, mit denen sie in den Werken der Weltliteratur konfrontiert werden, und verlangen, daß Dozenten sie im voraus auf entsprechende verstörende Stellen im Lehrmaterial hinweisen.

All dem Gerede über die Befreiung der philologischen Fächer von der Dominanz weißer Europäer zum Trotz haben neue Disziplinen wie Gender- und Ethnic Studies sowie andere Postmodernismen in Wirklichkeit die Horizonte der Erforschung der Conditio Humana keineswegs erweitert, sondern verengt. Heutige Studierende haben gelernt, sich im Minenfeld zwischen „angemessener“ und „unangemessener“ Sprache zu bewegen, und wissen, daß ihr zukünftiger Berufserfolg von ihrer Fähigkeit abhängt, ihre Gedanken für sich zu behalten. Lehr- und Verwaltungskräfte ignorieren die neuen Verkehrsregeln für den alltäglichen Sprachgebrauch auf eigenes Risiko.

Die Herrschaft der Gedankenpolizei auf dem College-Campus mag sich nach einer neuen verrückten, aber kurzlebigen Mode aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten anhören. Es muß jedoch die Frage gestellt werden, welche langfristigen Schäden diese selbstverschriebene Zensur anrichtet. Wenn ein beliebter Komiker wie Jerry Seinfeld sich weigert, an Universitäten aufzutreten, weil ihm die politische Korrektheit allzu erdrückende Formen annimmt, dann ist das ein unverkennbares Anzeichen für einen Kulturwandel, der womöglich nicht wieder rückgängig zu machen ist.






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco

Foto: Abschlußfeier an der California State University Fullerton: Müde nach der Therapiesitzung und dem Besuch der Feinschmecker-Kantine