© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Löchrig wie ein Schweizer Käse
Unterwegs mit Zuwanderern: Zwischen Griechenland und Serbien sind Kontrollen selten / Staaten stellen Züge für den Abfluß der Massen
Billy Six

Der helle Vollmondschein bleibt nicht die einzige romantische Einlage in dieser sternenklaren Nacht. Idomeni, Nordgriechenland. Zwischen Staub und Müllfeldern meldet sich eine Frauenstimme aus der Dunkelheit. Die 21jährige Hadeel, Studentin aus Syriens Hauptstadt Damaskus, wartet am Ende einer Ansammlung aus gut hundert Migranten, die es vor Sonnenuntergang nicht mehr rüber geschafft haben – durch die Eisenbahn-Lücke am Stacheldrahtzaun nach Mazedonien zu kommen. Ihr Ziel: Studieren in Österreich. Dafür hat sie Mutter und Bruder mitgenommen; der Vater sei bei seinem Geschäft in der Heimat geblieben. Der Fall hebt sich ab im Strom der mehrheitlich allein reisenden jungen Männer. 

Gleich sind die Preise: Etwa 1.000 Euro kosteten die Bootsüberfahrten von der Türkei auf eine der griechischen Inseln – für Spottpreise von weniger als 100 Euro ging es weiter mit Fähren und Bussen gen Norden. Athen will sie dezent loswerden. In Verhandlung mit den mazedonischen Kollegen spricht sich die griechische Polizei dafür aus, die Wartenden durchzulassen. Nicht noch einmal sollen sich hier Menschenmassen stauen. 

Einreise ohne Kontrolle und Registrierung   

Wie Hadeels Familie bin auch ich sieben Kilometer von der E75 kommend über die Landstraßen gewandert – jetzt nehmen sie mich herzlich als einen der Ihren auf. Kontrollieren tut niemand, wer sich auf die Transitreise Richtung Deutschland begibt. Zu einer Registrierung kommt es während dieses zweitägigen Selbstversuchs nicht, obwohl das Gesetz dies sowohl in Mazedonien als auch in Serbien vorsieht. 

Mazedoniens schwer bewaffnete Spezialpolizei verlangt den Durchmarsch in Zweierreihen sowie das Antreten zum Spalier, bevor es gruppenweise ins neue Lager hineingeht. Zelte und Umzäunung sind frisch errichtet – dank ihnen ist die Grenzstadt Gevgelija wieder sauber. Zuvor hatten dort Tausende am Bahnhof kampiert. Die Wartezeit beträgt nur wenige Minuten – dann rollt der leere Spezialzug vor. Zehn Euro kostet der Fahrschein – zügig, aber geordnet füllen sich die Waggons. Es ist beengt und riecht streng. Im Volksmund kursiert für die vier bis fünf täglichen „One-Way“-Fahrten bereits der Begriff „Ebola-Expreß“ – doch Anzeichen für Krankheiten sind hier nicht zu erkennen.

Dreieinhalb Stunden werden für die 207 Kilometer Fahrt nach Tabanovtse an der Grenze zu Serbien benötigt. Das unverschleierte Moslem-Mädchen Hadeel und ihre Mutter bleiben der Blickfang der Männerschar im Abteil – und doch bleibt trotz des Stresses alles ruhig und zivilisiert. Selbst als es um die Frage geht, ob ein belegtes Brötchen mit Schweineschinken gegessen werden darf. Hadeel meint, im Falle von Alternativlosigkeit sei das in Ordnung – und beißt hinein. Englisch-Student Masek, ebenfalls aus Damaskus, zitiert von seinem Smartphone das kategorische „Verbot Allahs“. Zwei Jahre habe er versucht, in der Türkei Fuß zu fassen – doch die Arbeitsbedingungen seien schlecht, auch sein Studium habe er nicht beenden können. 

Deshalb die Asyl-Reise ins ersehnte „Almania“. Fundiertes Vorwissen über Deutschland läßt sich in keinem der Gespräche zutage fördern. Auch Interesse an Kultur, Gesellschaft oder Geschichte ihres Ziellandes wird scheinbar nur pro forma geäußert. Als wichtig gelten finanzielle Zuwendungen, Arbeitsmöglichkeiten, Reisepässe oder Wohnhäuser. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge groß, später im „armen“ Ungarn per Fingerabdruck registriert zu werden, und hier den „Asyl-Status“ zu erhalten. Laut und unwirsch werden alle Insassen hinausgescheucht, als die Reise am nördlichsten Bahnsteig Mazedoniens endet. Nur Sekunden nach seiner Ankunft tritt der Zug bereits die Rückfahrt an. Wie eine Ameisenstraße bahnen sich die Migranten ihren Weg durch die Dunkelheit. Der sechs Kilometer lange Weg ins serbische Miratovac führt über Trampelpfade. Was auffällt, ist die Zügigkeit der Wanderung – beinahe so, als würden sich die Menschen in einem Wettkampf befinden. Wenig später stauen sich die Massen bereits wieder – an einem Graben voller Matsch. Ein wenig naß und dreckig wird bei dieser Wanderung jeder. 

Auf halbem Wege: das erste Zusammentreffen mit der Grenzpolizei Serbiens. Der Staat hat ein umzäuntes Lager mit Zelten errichtet – alles vermüllt, aber dafür mit kostenloser Ausgabe von Medikamenten. Nach einer Stunde Wartezeit eine Ansage der Einsatzkräfte für die nach Informationen lechzende Masse: Das zentrale Erstaufnahmelager befinde sich in Preshevo, noch mal sieben Kilometer weiter. Die meisten wandern weiter, wollen nicht auf den UNHCR-Bus am nächsten Tag warten. 

Als bereits der frühe Morgen anbricht, nehmen einige mit Erstaunen zur Kenntnis, daß auch hier in Europa  der Muezzin-Ruf weithin zu hören ist. Journalistisch vielfach interessanter: die Anwesenheit österreichischer Polizisten in Zivilkleidung. Auf dem Dach ihres Van ist ein Gerät zur Überwachung des Geländes aufgestellt. Nachfragen finden sie gar nicht gut. Einwohner berichten, daß auch die ungarische Polizei vor Ort sei. Das Ziel: Bestandsaufnahme. 

Für sieben Uhr ist die Öffnung der offiziellen Registrierungsstelle von Pre-shevo ankündigt – mit einer Stunde Verspätung wird der Zaun geöffnet, an dem sich bereits eine zehn Meter lange Menschentraube gebildet hat. Andere schlafen am Straßenrand. Hadeel und ihre Angehörigen wollen nicht warten – für den erhöhten Preis von 55 Euro nehmen sie einen Bus nach Belgrad, der die Passagiere auch ohne griechische Registrierungsdokumente, die zuvor reihenweise weggeworfen wurden, mitnimmt. Offiziell ist das nicht gestattet – ebensowenig wie die Aufnahme in ein Hotel. Dennoch klappt es immer wieder. 

Niemand will in Serbien bleiben

Doch viele Syrer aus dem Zug warten über Stunden in dem verunreinigten Lager, in welchem Namen niedergeschrieben sowie Fingerabdrücke und Profilbilder aufgenommen werden. „Wir wollen nicht diejenigen sein, die sich nicht an die Regeln halten“, sagt einer von ihnen. Drei Tage dürfen sie sich dann legal in Serbien zwecks Transits aufhalten oder in eines der fünf Dauerlager übersiedeln. 

„Aber niemand will in Serbien bleiben“, sagen Mitarbeiter der staatlichen „Kommission für Flüchtlinge und Migration“. Seit dem 8. Juli gebe es das Registrierungszentrum – mehr als 40.000 Asylbewerber hätten sich seitdem gemeldet. 90 Prozent von ihnen seien Syrer, sagt ein Bevollmächtigter. Doch viele Syrer berichten übereinstimmend, daß sich auch Iraker, Palästinenser, Afghanen und Pakistani mittlerweile als Syrer ausgäben, um ihre Asylchancen zu verbessern. Religiöse oder ethnische Kämpfe seien jedoch nach Angaben der Kommissionsmitarbeiter bisher nicht aufgetreten. 

Zurück am mazedonischen Bahnhof Tabanovtse bestätigen Mitarbeiter der freiwilligen lokalen Spendenorganisation „Legis“ jedoch, daß der Unterschied zwischen Syrern und Afghanen im Verhalten zu erkennen sei. Wortführerin Maree, früher als mazedonische Soldatin Teil der Isaf in Afghanistan, hält den Ansturm neuer Ankömmlinge vor der kostenfreien Essensausgabe mit ihrer lauten Stimme im Zaum. „Die Syrer haben alles dabei, was sie benötigen und halten sich zurück. Von den Afghanen reißen viele jedoch rücksichtslos auch mehr an sich, als sie brauchen.“