© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Mehr als Folklore
Belletristik: In „Bretonischer Stolz“ ermittelt Kommissar Dupin im keltischen Kosmos
Karlheinz Weißmann

Oberhalb des Belon mit Blick auf den Atlantik stehen die Tische, roh gezimmert, unter freiem Himmel, darauf ein paar Teller, kleine Gläser mit Weißwein, Brot und ein Kunststoffeimerchen für die Abfälle, das heißt die Schalen der „Belons“. Die Bänke sind gut besetzt, ausnahmslos mit deutschen Gästen, die sich schmunzelnd zunicken oder ein paar Bemerkungen machen, über „plates“ und „creuses“, daß erstere die eigentlichen europäischen Austern seien, letztere die aus Asien nach dem Schädlingsbefall vor Jahren eingeführten, bauchiger und größer. Es geht darum, ob man den Geschmacksunterschied bemerkt, oder der Belon, in dem sich Salz- und Süßwasser mischen, den einen wie den anderen etwas Unverwechselbares gibt.

Die Leute sind sonst ganz unprätentiös, keine Snobs, und ihre Kenntnis beruht offenbar nicht auf der Zugehörigkeit zu jenen Kreisen, in denen man Austern seit je als Delikatesse schätzt und die sich eher im Lokal unten in Port Belon finden, das im Guide Michelin erwähnt wird. Vielmehr hantiert man mit frisch erworbenen Einsichten, die, wie man lächelnd zugesteht, einem Krimiautor zu verdanken sind: Jean-Luc Bannalec beziehungsweise dessen Hauptfigur, Kommissar Dupin, stationiert im unweit gelegenen Concarneau, oder noch genauer Dupins Assistentin, Nolwenn, einer wandelnden Enzyklopädie in bezug auf alles, was mit der Bretagne zusammenhängt.

Es gehört zur geschickten Anlage der Romane, die ein Deutscher unter dem bretonischen Pseudonym Bannalec schreibt, daß er in dem Pariser Dupin, den eine Art Strafversetzung in den äußersten Westen verschlug, eine Zentralfigur gefunden hat, die als Hauptstädter vielen Eigenheiten der Bretonen so fremd gegenübersteht wie der Durchschnittsdeutsche, wenngleich man bei letzterem, anders als bei ersterem, ein grundsätzliches Wohlwollen für die Bretagne voraussetzen kann.

Spuren verweisen auf Druidenbünde

Bannalec nutzt die Konstellation jedenfalls, um den Leser mit allen möglichen mehr oder weniger skurrilen Details zur bretonischen Geschichte, Geographie, Kultur und Mythologie zu versorgen. Gelegentlich wird das Ganze vielleicht etwas zu exotisch, aber im großen und ganzen entsteht ein Bild, das die Deutschen seit langem und in besonderem Maße anspricht und das sich nicht einfach auf den Nenner der üblichen Frankophilie bringen läßt.

Es bildet den Hintergrund für die Handlung der mittlerweile vier Romane dieser Reihe, bei denen es nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie um die Jagd auf den Täter geht. Bannalec befaßt seine Leser jedenfalls auch mit dem künstlerischen Erbe Gauguins und seiner Freunde, die am Ende des 19. Jahrhunderts in die damals noch archaische Landschaft am Aven kamen („Bretonische Verhältnisse“, 2012), oder mit der einmaligen Natur der Glénan-Inseln vor der Südküste („Bretonische Brandung“, 2013). Im vorletzten Band hing irgendwie alles mit dem berühmten Fleur de sel zusammen, das in den großen Salzgärten der Guérande gewonnen wird („Bretonisches Gold“, 2014), und jetzt alles mit den Austern. Ein anderes Thema von „Bretonischer Stolz“ bildet noch jener besondere Internationalismus, den man in der Bretagne pflegt: der „Inter-“, früher sprach man von „Pankeltismus“, eine Bewegung, die seit dem 19. Jahrhundert die keltischen Völker erfaßte und ihrem Selbstbewußtsein, manchmal sogar ihrem politischen Unabhängigkeitswillen, starken Auftrieb gab.

Die Gemeinsamkeit zwischen Iren, Schotten, Walisern, Kornen, Mannin und Bretonen (gelegentlich werden noch Asturier und Galicier sowie Bekenntniskelten aus Norditalien hinzugerechnet) reicht jedenfalls über den Gebrauch des Dudelsacks oder die Vorliebe für Männerröcke hinaus. Sie ist auch nicht einfach auf Folklore oder ungewöhnliche Restsprachen zu reduzieren und erklärt im jüngsten Fall Dupins, warum zwei Schotten aus lange ungeklärter Ursache in die Bretagne kommen, dort ermordet werden und die verschiedenen Spuren auf einen lange zurückliegenden Bankraub und auf mehr oder weniger geheimnisvolle Druidenbünde verweisen. Die Konkurrenz zwischen Pipebands aus allen Ecken des keltischen Kosmos spielt eine Rolle und auch die Menge an Verbindungen, die am Rand des großen interkeltischen Festivals geknüpft werden, das jedes Jahr in der bretonischen Hafenstadt Lorient stattfindet.

Sonst dreht sich das Geschehen aber um die uralte Kunst, Austern zu züchten und zu verfeinern, um deren Empfindlichkeit und die Gefahr der Fälschung, um das ganz große Geschäft und den ganz großen Betrug. Mittendrin: eine elegante Pariser Dame mit Spürsinn und natürlich Dupin, der wie immer mit seinem empfindlichen Magen genauso zu kämpfen hat wie mit seiner Koffeinsucht, mit der Inkompetenz seines Präfekten genauso wie mit den Nebenermittlungen zum Thema „Sandraub“. Immerhin besteht für sein Privatleben mehr Hoffnung als sonst, nicht nur wegen des sicheren Ports, den er abends im „L’Amiral“ in Concarneau bei einem Entrecôte und Frites und einem schweren Rotwein aus dem Languedoc findet, sondern auch weil sich seine Geliebte Claire in Quimper niederlassen will.

Der vierte Band wird nicht der letzte sein

Aufgrund dieser Konstellation, aber selbstverständlich vor allem wegen des außergewöhnlichen Erfolgs, den die Dupin-Romane bisher zu verzeichnen hatten, darf man wohl davon ausgehen, daß der vierte Band nicht der letzte der Reihe sein wird. Vielleicht kann der Kommissar dann auch einmal weiter im wilden Norden der Bretagne oder im weniger pittoresken Landesinneren ermitteln, was die Idylle vielleicht trüben, der Atmosphäre der Bücher aber kaum schaden sollte.

Wahrscheinlich würden Bannalecs Leser auch den Weg zur Granitküste, nach Tréguier oder Saint-Malo finden und mit derselben gespannten Aufmerksamkeit die Details vor Ort beobachten, mit der sie am Belon auf das Wasser schauen. Der eine oder andere nährt wohl die Hoffnung, daß sich der legendäre Riesenhai „Kiki“ zeigt, von dem an diesem Tag aber nicht einmal ein Stück der Rückenflosse zu sehen ist, auf dem angeblich zwölf Meter langen Fischleib des im übrigen ganz harmlosen Planktonfressers.

Jean-Luc Bannalec: Bretonischer Stolz. Kommissar Dupins vierter Fall. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, broschiert, 384 Seiten, 14,99 Euro

Foto: Ein Austernzüchter in der Bretagne kontrolliert bei Ebbe die Gestelle mit den schmackhaften Muscheln: Ganz großes Geschäft