© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Bemerkenswert, in welcher Art und Weise sich die Bürgerkriegserwartung verändert. Von den eher diffusen und raunenden Ankündigungen (Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, 1993) über die sehr konkrete These, daß der Westen als Folge innerer Zersetzung und zunehmender Verschärfung der Volkstumskämpfe zu einem Haufen von „failed states“ werde (Eric Werner: L’avant-guerre civile, 1999) bis zu den aktuellen Warnungen der französischen Linken, daß ein Sieg des Front National bei den kommenden Wahlen zu einem Ausbruch des latenten Konflikts zwischen altem (Autochthone plus Rechte) und neuem Frankreich (Einwanderer, Menschen mit Migrationserfahrung plus Linke) führen müsse. Der erste Sekretär der Sozialistischen Partei, Jean-Christophe Cambadélis, äußerte jedenfalls in einem Fernsehinterview: „Wenn der Front National an die Macht kommt, wird er, unterstelle ich, sein Programm umsetzen. Das heißt, er wird vier Millionen französische Moslems an die Grenze zurückschaffen. Man wird Jagd auf alles machen, was nordafrikanisch ist (…) Man wird einen Teil unserer Bevölkerung attackieren. Das wird untragbare Spannungen für die französische Gesellschaft bedeuten.“

˜

Die Kanzlerin wurde in Marxloh freundlich begrüßt, in Heidenau nicht. Sicher denkt sie schon über Brechts Empfehlung zum Volkswechsel nach, angesichts der Undankbarkeit der Regierten.

˜

Das Niveau der gegenwärtigen „Flüchtlingsdebatte“ ist auch daran ablesbar, daß niemand die notwendige Unterscheidung von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ ins Feld führt.

˜

Die Schädelmauer, die man jüngst in Mexiko-Stadt gefunden hat, erinnert nicht nur an Thomas Manns Diktum, daß Kultur in manchen Fällen nichts anderes ist als „stilvolle Wildheit“, sondern auch an die fatalen Folgen jenes Geschichtsbilds, das in den letzten Jahrzehnten etabliert wurde und den Kolonialismus in einem um so schlechteren Licht erscheinen ließ, als durch systematische Fälschung oder Auslassung kaum Kenntnis der Zustände vorhanden ist, mit denen die Europäer bei ihren Entdeckungsfahrten konfrontiert wurden. Es existiert sicher kein Schulbuch mehr, das davon berichtet, wie die Spanier bei der Besetzung von Tenochtitlan angesichts des Verwesungsgestanks und der Ströme von Blut, die bei der Menge an Menschenopfern flossen, glaubten in die Hölle geraten zu sein. Und leider haben nur wenige Mel Gibsons „Apocalypto“, der sich auf die Maya und deren ähnlich barbarische Riten bezog, in Erinnerung behalten, oder wenn doch, dann wahrscheinlich nur als Abenteuerstreifen oder eine Art Fantasy.

˜

Wer angesichts der wachsenden Probleme der Altenpflege dazu neigt, idyllische Vorstellungen im Hinblick auf frühere Verhältnisse zu pflegen, Zeiten, als Greise und Sieche noch in ihren Familien lebten, und es keine Heime gab, in die sie „abgeschoben“ werden konnten, dem muß man gar nicht die Verhältnisse bei Eskimos oder anderen Primitiven schildern, die mit denjenigen, die der Sippe nicht mehr nutzten, mehr oder weniger kurzen Prozeß machten. Vielleicht genügt der Bericht des Völkerkundlers Wilhelm Mühlmann über Gegenden der Pyrenäen, wo sich noch im 20. Jahrhundert die Dorfgemeinschaft versammelte, um anwesend zu sein, wenn der nächste männliche Angehörige denjenigen erschlug, der nicht sterben konnte. Weniger dramatisch, dafür der Alltagswelt näher, ist das Szenario, das Pierre Loti in seinem Roman „Die Islandfischer“ (1886) ausmalte, als die Greisin nach dem Tod des letzten Mannes ihrer Familie von den Nachbarn ohne Zögern Armut und Verwahrlosung preisgegeben wird, in jenen Zustand der „Alterskindheit“ verfällt, den wir Demenz nennen, und schließlich alle Kraft verliert, weil die rohen Dorfjungen ihre Katze, das letzte freundliche Lebewesen, das sie umgibt, aus reiner Bosheit mit Steinen töten.

˜

„Der Zeitgeist, der (…) die Aufnahme von jedermann aus Afrika und Asien erzwingen will, versteht nichts vom Fremden wie vom Eigenen.“ (Wolf Jobst Siedler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Dezember 1996)

˜

Bildungsbericht in loser Folge LXXIX: Der Lehrer: „Was entnehmen Sie der Statistik zur Bevölkerungsentwicklung in Palästina zwischen 1920 und 1950?“ Der Schüler: „Die Zahl der Araber hat sich kaum verändert, die der Juden ist immer weiter angewachsen.“ Der Lehrer: „Wie erklärt sich das?“ Der Schüler: „Durch die Einwanderung der Juden nach Palästina.“ Der Lehrer: „Was hatte das zur Konsequenz?“ Der Schüler: „Daß die Juden irgendwann die Übermacht gewannen, weil sie in der Mehrheit waren.“ Der Lehrer: „Was folgern Sie daraus?“ Der Schüler: „Daß es keine gute Idee ist, unkontrolliert immer mehr Fremde ins Land zu lassen?“ Ein wissendes Aufstöhnen läuft durch die Klasse.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 18. September in der JF-Ausgabe 39/15.