© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

In der Höhle des Löwen
Poker mit kalkulierten Einsätzen: Adenauers Reise nach Moskau 1955
Gernot Facius

Die Einladung kam für Konrad Adenauer überraschend und  zunächst ungelegen. Am 7. Juni 1955 hatte die Sowjetregierung beim Bonner Botschafter in Paris, Freiherr Vollrath von Maltzahn, eine Note abgegeben, in der ein Moskaubesuch des Kanzlers vorgeschlagen wurde, um, wie es in der gestelzten Diplomatensprache hieß, „die Frage der Herstellung der diplomatischen und Handelsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland zu besprechen und die damit zusammenhängenden Fragen zu erörtern“. 

Adenauer sah darin einen Versuch, einen Keil zwischen die Bundesrepublik, die seit den Pariser Verträgen der Nato angehörte, und die Westmächte zu treiben, doch er begrüßte die Möglichkeit, an der Moskwa „unsere Politik klar darlegen zu können“. Mit dem Plazet der Verbündeten und ungeachtet der Einwände des von Heinrich von Brentano (CDU) geführten Auswärtigen Amtes reiste er drei Monate später mit einem Riesentroß von 141 Personen, „eines Kaisers des Heiligen Römischen Reiches würdig“, wie die Süddeutsche Zeitung befand, in die UdSSR. 

Der Alte von Rhöndorf befand sich dabei durchaus in einem Zwiespalt. Einerseits wollte er sich nicht für einen russischen Propagandafeldzug rekrutieren lassen, andererseits fürchtete er das negative Echo bei einem Nein zu dem Kreml-Angebot: „Ginge ich nicht nach Moskau, würde es in der deutschen Öffentlichkeit heißen, ich hätte eine Chance ungenutzt gelassen, ich wollte weder den Frieden noch eine Entspannung, noch die Wiedervereinigung Deutschlands.“ Nach den parteipolitischen Kontroversen wegen der raschen Ablehnung der Stalin-Note vom März 1952 konnte sich der greise Kanzler nicht ein weiteres Mal dem Vorwurf aussetzen, Möglichkeiten der Wiedervereinigung nicht ausgelotet zu haben. 

Nato-Alliierte hatten keine Vorbehalte gegen die Reise

Der Schlüssel zur deutschen Einheit  lag nun mal im Kreml. Deshalb stand für Adenauer fest, „daß ich nach Moskau gehen muß“, aber erst nach der für Mitte Juli terminierten Genfer Vierer-Konferenz. Begründung: Es dürfe nicht einmal der Anschein von Parallelverhandlungen oder gar eines Gegensatzes zur Deutschlandpolitik der Verbündeten und ihrer Genfer Konferenzstrategie aufkommen. Von keinem der Alliierten war allerdings zu hören, der deutsche Regierungschef solle die Einladung der Sowjets ausschlagen. Im Gegenteil, die Briten zeigten sich erfreut, daß es nun bald einen direkten Draht zwischen Bonn und Moskau (und danach auch zwischen Bonn und der DDR) geben werde. Und US-Präsident Eisenhower bekundete demonstrativ sein Vertrauen zum Kanzler. 

Die deutsche Verhandlungstaktik war klar: Pochen auf Freilassung der Kriegsgefangenen und Internierten sowie, etwas zaghafter, auf Schritte zur deutschen Einheit. Beim Thema Wiedervereinigung, so hat Adenauer in seinen „Erinnerungen“ geschrieben, „hielten wir in Moskau bewußt Maß“. Von Anfang an habe die Bonner Delegation nicht erwartet, mit den Russen eingehend über dieses Problem verhandeln zu können: „Unser Standpunkt war nach wie vor: Es war die Verpflichtung der vier Siegermächte, einschließlich der Sowjetunion, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Wir hatten uns bewußt begnügt mit der Anerkennung durch die Sowjetregierung, daß die vier Siegermächte verpflichtet seien, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen.“ 

Aus dem Studium der Bonner Akten folgerte der Zeithistoriker Professor Hanns Jürgen Küsters von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), daß der Kanzler nicht nur im Unterschied zu seinem Umfeld von vornherein die Anknüpfung offizieller Beziehungen mit Moskau als notwendig ansah, sondern auch – anders als sein Biograph Hans-Peter Schwarz meinte – keine sowjetische Bereitschaft zur Wiedervereinigung erwartete. Wenn er diese gleichwohl zunächst ins Zentrum der Gespräche rückte, so sollte das die Kritiker in der eigenen Delegation davon überzeugen, daß da vorerst nichts zu erreichen war und mithin allein die Freilassung der Kriegsgefangenen in Betracht kam. 

Diese so nachhaltig als einzigartigen Erfolg darzustellen, sei „ein Meisterstück gewesen“ (Küsters). Der Historiker Henning Köhler spricht von Adenauers „spektakulärster politischer Aktion“. Durch sie wurde auch das Ergebnis der Bundestagswahl 1957 beeinflußt: absolute Mehrheit für CDU/CSU. Heute weiß man, daß die Sowjetunion die Gefangenenentlassung ohnehin auf der Agenda stehen hatte, sie wollte so viel politischen Gewinn wie nur möglich daraus ziehen. 

„Daß die Sowjetführer schon vor Beginn der Verhandlungen beschlossen hatten, die restlichen Kriegsgefangenen als Tauschobjekt (für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen) anzubieten, ändert einige Details der populären Historienmalerei“, meint der pensionierte Botschafter Werner Kilian in seinem 2005 erschienenen Buch über die Moskau-Mission. „Die dramatische Szene beim Empfang im St. Georg-Saal, bei der (Ministerpräsident) Bulganin ‘unvermittelt und sehr impulsiv’ dem Kanzler versprach, (...) ‘wir geben sie ihnen alle – alle!’ reduziert sich nun auf den gut gespielten Part einer Pokerpartie. Allerdings war der Kanzler keineswegs der Verlierer. Auch er war schon seit längerer Zeit bereit gewesen, dem gewünschten Botschafteraustausch zuzustimmen, gegen den er sich in Moskau tagelang zur Wehr setzte.“

Einfach waren die Verhandlungen zu keiner Zeit gewesen. Das Problem war nicht allein die Kreml-Führung um Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin. Kontroversen gab es auch mit Teilen der deutschen Delegation. Auf die Frage, wer der schwierigste Gesprächspartner gewesen sei, sprudelte es aus Adenauer heraus: Herr von Brentano. Der Kanzler brachte seinem Außenminister wenig Vertrauen entgegen, er machte Außenpolitik lieber selbst. Brentano und seine Diplomaten wollten einen politischen Trumpf, die Bereitschaft zum Botschafteraustausch, nicht um einer humanitären Gegengabe willen aus der Hand geben – sie wollten mehr als nur mündliche Zusagen. In einem unbedachten Augenblick, notierte der Spiegel, drohte der hessische Edelmann damit, daß Adenauer sich für die Außenministerkonferenz in New York einen neuen Außenamtschef suchen möge. 

Mehr als eine mündliche Zusage bekam er nicht

Immer wieder stockten die Beratungen. „Wer hat denn das Abkommen mit Hitler (den Hitler-Stalin-Pakt) unterzeichnet, Sie oder ich?“ So herrschte der Kanzler Außenminister Molotow an. Es ging hart auf hart. „Unverschämtheit, unerträglich, die Verhandlungen sind zu Ende. Wir reisen ab“, rief Brentano Korrespondenten zu. Wenn es damals schon Twitter gegeben hätte, wäre der Besuch anders verlaufen, merkt Gerd Ruge (ARD) in seinen „Politischen Erinnerungen“ an. „Nur die schlechten Telefonverbindungen bewahrten mich davor, eine Falschmeldung in die Welt zu setzen.“ Denn Adenauer dachte nicht an einen Abbruch der Verhandlungen. Drohgebärden gehörten zu seiner Taktik. 

Der Kanzler selbst, so Professor Küsters, habe die Behauptung in die Welt gesetzt, daß seine Weisung, die Luft-hansa-Maschine früher nach Moskau zu beordern, die Gegenseite zu mehr Konzilianz bewogen habe. „Doch Adenauer konnte es in Wirklichkeit kaum riskieren, die Verhandlungen platzen zu lassen.“ Es war der SPD-Schöngeist Carlo Schmid, dem es in einer rhetorischen Meisterleistung gelang, in der Heimkehrer-Frage das Eis zu brechen. Die Sowjet-Führer sollten nicht an die verurteilten „Verbrecher“, sondern an deren Mütter und Kinder denken. Nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus Großmut sollten sie die Menschen freigeben, aus jenem Großmut, der stets eine Tugend des russischen Volkes gewesen sei. „Das war ein gutes Wort“, brummte Chruschtschow. „Jetzt können wir weiterreden.“ 

Von Staatssekretär Hans Globke, so geht die populäre Erzählung, hatte sich Schmid reichlich Olivenöl verabreichen lassen und sich ins Herz vor allem des sowjetischen KP-Chefs hineingebechert.  Das schien sich auszuzahlen. Adenauer ging zu Schmid, um ihm zu danken. Am 14. September 1955 kehrte der Kanzler im Triumph nach Bonn zurück. „Adenauer holt Kriegsgefangene heim“ titelten die Zeitungen. Dabei hatte er nur eine mündliche Zusage erhalten. Bauernschlau hatte Chruschtschow dem Deutschen versichert, sein Ehrenwort gelte mehr als die Aktenschränke des Genossen Molotow zusammen.