© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Es geht um die ganze Geschichte
Ernst Nolte löst sich in seinem nun komplettierten Werk „Historische Existenz“ von der zeitgeschichtlichen Froschperspektive
Wolfgang Kaufmann

Es kommt sicher nicht allzuoft vor, daß ein Wissenschaftler nach mehreren kleineren Veröffentlichungen, mit denen er sich quasi in den endgültigen Ruhestand verabschiedete, dann plötzlich nochmals ein großes Werk von 750 Seiten Umfang vorlegt – zumal wenn er sich bereits im zehnten Lebensjahrzehnt befindet. Doch genau das tut Ernst Nolte nun mit der Herausgabe der aktualisierten Fassung von „Historische Existenz“. Außerdem beweist der Autor, welcher von der politisch korrekten Fachwelt und Öffentlichkeit wegen seiner Rolle im „Historikerstreit“ von 1986 gern als „gewesener“ oder gar „dubioser Historiker“ denunziert wird, mit diesem Werk zum erneuten Male, daß er tatsächlich nicht nur ein Geschichtsschreiber, sondern auch ein Geschichtsdenker im besten Sinne dieses Wortes ist. 

Phänomene der Historie in Gesamtrahmen einordnen

Aber vielleicht gelang es ihm ja gerade deshalb, sich über die Denkverbote und fachspezifischen Petitessen der etablierten Geschichtswissenschaft zu erheben und historische Entwicklungen unvoreingenommen beziehungsweise aus einer sehr abstrakten, eher philosophischen Perspektive zu betrachten. Dabei besteht die größtmögliche intellektuelle Herausforderung natürlich darin, die gesamte Geschichte der Menschheit in den Fokus zu nehmen und alle Entwicklungen und Phänomene der Vergangenheit in einen Gesamtrahmen einzuordnen. Und genau das tut Nolte in „Historische Existenz“!

Hier geht es tatsächlich um die Geschichte als Ganzes, also um die komplette Zeitspanne zwischen dem Ende der prähistorischen Periode vor etwa 7.000 Jahren und der Gegenwart beziehungsweise dem nunmehrigen Beginn der Nachgeschichte. In diesem Zusammenhang versucht Nolte zunächst einmal herauszuarbeiten, durch welche Entwicklungen die Geschichte im eigentlichen Sinne eingeläutet wurde. Dabei kommt er zu der Ansicht, daß die Entwicklung der Schrift eine wesentlich zentralere Rolle gespielt habe als die sogenannte „neolithische Revolution“ mit ihrem Übergang zur Seßhaftigkeit und dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht: erst durch die Schrift sei es möglich geworden, Erinnerungen über längere Zeiträume zu bewahren und somit das Geschehene in Geschichte zu transformieren.

Diese Feststellung ist methodisch notwendig, aber natürlich längst nicht so spannend wie die Klärung der Frage, ob wir mit der Gegenwart denn nun tatsächlich auch schon das vielbeschworene Ende der Geschichte erreicht haben – erst dann bestünde schließlich die Möglichkeit, die historische Existenz der Menschheit wie ein abgeschlossenes Kapitel zu behandeln. In Bearbeitung dieses Problems gelangt Nolte zunächst zu der Einsicht, daß es schier unmöglich sei, analog zum Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte, eine einigermaßen klare Grenze zwischen der Geschichte und der Nachgeschichte zu definieren. 

Allerdings, so Nolte weiter, gebe es eine Reihe von charakteristischen Indikatoren, welche in ihrer Gesamtheit doch ziemlich zweifelsfrei auf ein Ende der Geschichte hindeuten: die Globalisierung mit ihrem Drang, eine einheitliche Weltzivilisation hervorzubringen, der Bedeutungsverlust des Nationalstaates in der nunmehr entstehenden „Einen Welt“, die verbreitete Zivilisationsmüdigkeit, die Bevölkerungsexplosion außerhalb der westlichen Industriestaaten und die daraus resultierenden Migrationsströme, das zunehmende Aufbegehren gegen jede Form von sozialer und ökonomischer Ungleichheit sowie die Ablösung der Religionen durch alle möglichen kruden Fundamentalismen.

Nolte weitet seine These vom kausalen Nexus

Bei der Beschreibung der historischen Existenz der Menschheit, also der 7.000jährigen Präsenz dessen, was wir gemeinhin unter Geschichte verstehen, verfährt Nolte dann wiederum folgendermaßen: Statt im konventionellen Sinne chronologisch vorzugehen, analysiert er zahlreiche zentrale „Schemata der historischen Existenz“ wie Religion, Ideologie, Herrschaft, Kunst, Bildung, Wissenschaft und Ökonomie, wobei er zum Schluß immer stärker auf die drei historischen Phänomene rekurriert, die ihn zeit seines Lebens am meisten faszinierten, nämlich das Judentum, der Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus sowie der Bolschewismus. 

Dabei kommt Nolte zu dem Schluß, daß das Judentum und der Bolschewismus eher auf ein Ende der Geschichte hingearbeitet hätten, während es das Bestreben der Faschisten und Nationalsozialisten gewesen sei, sich gegen das „klassen- und staatenlose ‘Jenseits der Geschichte’“ zu stemmen – sämtliche Handlungen der Nationalsozialisten müßten also vor dem Hintergrund des Umstandes gesehen werden, daß diese nicht nur ihre eigene historische Existenz, sondern auch die der Menschheit insgesamt gefährdet sahen.  

Damit geht Nolte über seine früheren Thesen wie die vom „kausalen Nexus“ zwischen dem bolschewistischen Klassenmord und dem Rassenmord der Nationalsozialisten hinaus, weil er nun ein geschlossenes und konsistentes Theoriegebäude errichtet, welches durch seine Metaperspektive besticht. Und das sollte die Kritiker Noltes eigentlich zum Verstummen bringen. Allerdings bräuchten sie dazu ein Mindestmaß an menschlicher Größe, welches wohl den wenigsten zu eigen ist. Dies zeigte sich schon 1998 anläßlich des Erscheinens der Urfassung von „Historische Existenz“. Damals setzte sofort das krampfhafte Suchen nach „Stellen“ ein, die man irgendwie nutzen konnte, um Nolte nochmals ein zu großes Verständnis für die Nationalsozialisten anzudichten. Und so wird es wohl auch jetzt wieder sein – zu mehr reicht es eben bei manchem Historiker und Feuilletonisten nicht.

Ernst Nolte: Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte? Lau-Verlag, Reinbek 2015, gebunden, 765 Seiten, 39,80 Euro