© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Alles beliebig
Schilder, Aufschriften, Anschläge, Speisekarten: Die Rechtschreibung beherrscht kaum einer mehr
Bernd Rademacher

Die Tafel empfiehlt „Hühner Brust Streifen“ und dazu ein Glas „Rot Wein“. Ein beliebiger Gang durch eine Straße mit selbstgestalteten Werbeschildern gerät zu einer orthographischen Geisterbahnfahrt. An den Deppen-Apostroph („Mandy’s Nagelstudio“, „Uwe’s Imbiß“) hat man sich schon gewöhnt, doch die allgemeinen Rechtschreibkenntnisse werden immer prekärer. Selbst Straßennamen werden zunehmend falsch geschrieben („Heinrich Heinestraße“, „Gründgenstrasse“); der Bindestrich scheint aus dem Volksbewußtsein gelöscht worden zu sein.

Die Ursachen reichen weit in die BRD-Geschichte zurück und beginnen mit den sozialliberalen Schulreformen der siebziger Jahre. Deren Folgen wirken nachhaltig: Manche Erwachsene, die damals im „Mengenlehre“-Unterricht bunte Plättchen sortierten, haben bis heute eine Rechenschwäche. Dasselbe gilt für Rechtschreibung.

Eine Piepegal-Haltung  greift um sich

Im öffentlichen Raum verhinderten noch berufshalber orthographisch sichere Schriftsetzer und Schildermacher die schlimmsten Schreibfehler auf Werbemitteln. Seit dem Siegeszug des Desktop-Publishing aus dem persönlichen Computer hält niemand mehr den Massenausstoß von Buchstabensalat auf. Neben der realen Welt wird auch das Internet durch die sozialen Netzwerke mit Schlechtschreibung verpestet, „das einen die Haahre zuberge stehn“!

Seit der Rechtschreibreform hat sich die Grundhaltung durchgesetzt, daß es egal ist, wie man Worte schreibt. Motto: Wenn man Delfin mit f schreiben kann, ist alles übrige beliebig. Diese bildungsfeindliche Piepegal-Haltung wird ausgerechnet von denen unterstützt, die Bildung vermitteln sollten: den Lehrern. In der Grundschule greift das „Bielefelder Modell“ um sich, bei dem die Kinder mittels „Anlauttabelle“ schreiben, wie sie sprechen. Die Eltern werden ausdrücklich dazu angehalten, nicht korrigierend einzugreifen, wenn ihr Kind Schpine statt Spinne schreibt. Bis zum Ende des vierten Schuljahres werde die richtige Schreibweise schon vermittelt, wird den Eltern zur Beruhigung versichert.

Eltern, die darauf vertrauen und tatsächlich nicht neben der Schule zu Hause ihren Kindern richtiges Schreiben beibringen, wundern sich spätestens beim Wechsel auf die weiterführende Schule über katastrophale Deutschnoten. An den Gymnasien müssen etliche Schüler der Eingangsklassen Nachhilfekurse in Rechtschreibung belegen. An den Gesamtschulen dagegen machen viele Kinder bis in die oberen Klassen Fehler, die nach der Grundschule nicht mehr vorkommen dürften. Verzweifelten Eltern wird kaltschnäuzig erklärt, heutzutage sei Rechtschreibung nicht mehr so wichtig, wirklich entscheidend sei „soziale Kompetenz“ und der „Empathie-IQ“.

Während im Deutschen Kaiserreich zur Jahrhundertwende stolze 99 Prozent der Bevölkerung das Lesen und Schreiben beherrschten und 1912 der Analphabetismus offiziell als beseitigt galt, steigt die Analphabetenquote seit dem Jahr 2000 dramatisch an. Hamburger Wissenschaftler ermittelten, daß jeder siebte Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben könne!

Die deutsche Schulpolitik läuft nach der Devise: Wenn es schon nicht funktioniert, alle gleich schlau zu machen, machen wir eben alle gleich dumm – Hauptsache, alle gleich und niemand wird „diskriminiert“.