© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Der Flaneur
Das ersehnte Donnerwetter
Gerhard Großkurth

Es ist heiß draußen. Die Nachbarskinder stürmen das Planschbecken. Das ist viel zu klein, entsprechend heftig tobt die Schlacht. Ein anderer entdeckt gerade, wie bizarr ein Plastikrohr die eigene Stimme verändern kann und gibt alles. Ich weiß nicht, wer das Rohr im Garten liegengelassen hat, aber ich kann ihn jetzt schon nicht leiden. Vielleicht aus Gewöhnung, vielleicht aber auch in Erinnerung an die eigene Kindheit bleibe ich gelassen. Genaugenommen habe ich mich noch nie über den Lärm der Kinder beschwert, nicht einmal andeutungsweise. Erstaunlich finde ich allerdings, daß dies auch noch keiner der Nachbarn getan hat, und da sind alte Leute dabei, die brauchen ihr Mittagsschläfchen. Irgendwann zwischen meiner Kindheit und heute scheint ein Bewußtseinswandel eingetreten zu sein. Vielleicht hängt das mit der neuen deutschen Armut, der Kinderarmut zusammen. Kinder erscheinen auf einmal noch kostbarer als sonst.

Ein Leben ohne erwachsene Spielverderber kann auf Dauer unglaublich öde sein.

Einerseits freut mich das, andererseits: Ist so viel Nachsicht eine gute Vorbereitung aufs richtige Leben? Wo endet Toleranz und fängt  Gleichgültigkeit an? Kinder spüren das. Auch kann ein Leben ohne erwachsene Spielverderber auf Dauer unglaublich öde sein. Kein grimmiger Hausmeister, der mit donnernder Stimme die Einhaltung der Mittagsruhe anmahnt. Keine alte Ziege, die aus dem Fenster zetert. Kein gemeinsamer Feind, der die Kinder der Nachbarschaft wie Pech und Schwefel zusammenschweißt, sie zu mit viel Phantasie ausgedachten Streichen animiert. Keine Gelegenheit, die ungemein wertvolle Erfahrung zu machen, daß man es auch scheinbar übermächtigen Autoritäten mal heimzahlen kann. Irgend etwas wird fehlen, Einsichten und die Erlebnisse, die den Freundeskreis auch Jahre später noch an die gemeinsame Kindheit erinnern werden.

Doch diesmal haben die Kinder Glück. Ein Nachbar stellt langsam sein Glas auf den Balkontisch und geht zum Geländer hinüber. Die Kinder spielen danach noch eine ganze Weile weiter. Ruhiger, ja, vor allem aber auf eine schwer zu beschreibende Weise ausgeglichener und zufriedener.