© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Der Kater nach dem Rausch
Asyl-Krise: Aus einem „Sommermärchen“ wird bald ein Alptraum, wenn die Politik nicht rasch handelt
Dieter Stein

Deutschland erlebt sein Sommermärchen 2015. „Wir werden überrannt“ (Bodo Ramelow), nach neuesten Schätzungen in diesem Jahr nicht nur von 800.000, sondern von weit mehr, wie Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Kraft Anfang der Woche erklärte – doch an den Bahnhöfen stehen fröhliche Begrüßungskomitees. 

„Refugees welcome!“ – Flüchtlinge willkommen, steht auf Transparenten zum Empfang. Eine Parole, die einst von linksradikalen Gruppen ersonnen wurde. Jetzt wird sie begeistert vom Springer-Blatt Bild millionenfach als Aufkleber unter die Leute gebracht. Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend, wir wollen ein gastfreundliches Land sein, und das ist eigentlich auch gut so. Die Zehntausenden derzeit täglich in München und anderswo ankommenden Einwanderer sind vom liebenswürdigen Empfang gerührt, ausländische Medien sind positiv irritiert. 

Deutschland, in dessen kollektivem Unterbewußten ein negatives Selbstbild vorherrscht, wundert sich über seine Herzlichkeit. Bundespräsident Lammert jubelt, „angesichts unserer Geschichte“ sei es erstaunlich, daß „Menschen in Not“ in Deutschland „einen freien und sicheren Ort erkennen“. Eine Bekannte schrieb mir vor wenigen Tagen: „Es ist so wunderbar, Deutschland zu betrachten. Ich bin so stolz auf diese Menschen, die konkret helfen und beispiellos anpacken. Das ist eine Chance für Deutschland, an der wir gerade über uns hinauswachsen. Was diese Schüler und Kinder gerade lernen, indem sie helfen und merken, in was für einem wohlhabenden Land sie leben!“

Niemanden lassen die Bilder weinender Kinder kalt, nicht die Bilder von Ertrunkenen wie das eines kleinen Jungen an der türkischen Küste, das Zeitungen in den letzten Tagen in obszöner Weise auf Titelseiten ausschlachteten. Henryk M. Broder trifft aber den Punkt, als er kürzlich schrieb: „Wer angesichts solcher Bilder kein Mitleid empfindet, der hat kein Herz, wer aber nur Mitleid empfindet, von dem er sich mit einer Spende befreit, der hat keinen Verstand.“

Kann das so weitergehen? Noch berauschen sich deutsche Medien und Politiker an den überschwenglichen Reaktionen. Doch dem Rausch wird der Kater folgen. Denn es ist kein Ende des Ansturms von Menschen in Sicht, die sich in Nordafrika, aber vor allem aus den Flüchtlingslagern rund um Syrien auf den Weg machen. Und wir treiben den Strom noch besinnungslos weiter an, statt ihn zu bremsen.

Unsere Reporter, die in den vergangenen Tagen in Ungarn und an der griechisch-mazedonischen Grenze unterwegs waren, berichten, wie sich Nachrichten von den sogar auf arabisch geschriebenen „Willkommen“-Plakaten der Deutschen in Windeseile über Smartphones verbreiten. Welche Kettenreaktion es auslöste, als die deutsche Kanzlerin signalisierte, Syrern außerhalb der Dublin-Regeln Aufnahme zu gewähren. Merkel wird in Flüchtlingslagern des Nahen Ostens inzwischen wie eine Heilige als „Mutter aller Gläubigen“ verehrt. Nun gibt es kein Halten mehr.

In den nächsten Tagen und Wochen sollte die Erkenntnis reifen, welches Desaster die Politik mit ihrer inkonsequenten und planlosen Asylpolitik anrichtet. Von „Asylrecht“ überhaupt noch zu sprechen, ist ein Hohn. Faktisch ist es außer Kraft, Deutschland hat seine Grenzen scheunentorweit geöffnet, und jeder kann ins Land kommen. Er kann damit rechnen, hierzubleiben – Monate, Jahre, im Zweifel sogar für immer. Und er kann seine Familie nachholen, die noch im türkischen oder libanesischen Flüchtlingslager sitzt.

Schon die Erstaufnahme dauert Wochen und Monate, das Asylverfahren Jahre. Abschiebungen, die bei einem negativen Asylbescheid umgehend folgen müßten, finden aus Behördenversagen und mangelndem politischen Willen schon lange faktisch nicht mehr statt. Ein breitgefächerter Strauß an Duldungsmöglichkeiten sichert den Aufenthalt in einem der komfortabelsten Sozialsysteme der Welt. Insofern braucht es keiner Prophetie, um vorauszusagen, daß die Zahl der Asylsuchenden weiter explodieren wird.

Schon jetzt haben alle EU-Staaten massive Probleme vor allem mit Einwanderern aus dem arabisch-islamischen Raum. Die ethnisch-religiösen Gegensätze, die zu den Kriegen im Nahen Osten führen, lassen die Migranten an den Grenzen nicht zurück wie überflüssiges Gepäck. Hier tickt eine Zeitbombe.

Wie lange werden sich die Deutschen von den verantwortlichen Politikern belügen lassen über die kulturellen, sozialen, finanziellen Folgen einer humanitär bemäntelten Politik des Migrations-Laissez-faire? Ab welcher Zahl von Einwanderern, die auf dem Ticket Asyl nach Deutschland kommen, ist denn überhaupt Schluß? Zwei, drei, fünf oder zehn Millionen? Wie soll ein gebrochener Damm geschlossen werden, wenn er bereits kilometerweit geöffnet ist?

„Deutschland schafft sich ab“, schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Zastrow in Anspielung auf den Sarrazin-Bestseller. Doch Zastrow meint dies nicht etwa warnend, sondern für ihn kennzeichnet dies den natürlichen Lauf der Dinge. Schließlich verschwänden nach simpler biologischer Generationenfolge doch sowieso Menschen, die vor Jahrzehnten den Charakter des Landes bestimmt haben: „Vieles, was es heute gibt, gab es damals noch nicht.“

Und: „Wer vor fünfundzwanzig Jahren Kind war, hat schon Mühe, zu erklären, wie anders das Leben damals gewesen ist. Wer vor fünfzig Jahren Kind war, lebte tatsächlich in einem anderen Land, in einer anderen Welt. Es ist mehr fort als blieb.“ Und nun kommen eben Menschen, die vor Jahren noch nicht da waren.

Mit einem solchen, für die aktuellen Feuilletons typischen Fatalismus kann man die Folgen einer desaströsen Einwanderungspolitik zu einem schicksalhaften und nicht zu beeinflussenden historischen Tidenhub uminterpretieren. Im Sinne von Zastrow könnte man angesichts der neuen Völkerwanderung lakonisch Heraklit zitieren: „Alles fließt“. Oder Goethe, der in Anspielung darauf „ewiges Werden und Wandeln“ dichtete: „Es soll sich regen, schaffend handeln / Erst sich gestalten, dann verwandeln / Nur scheinbar steht’s Momente still / Das Ewige regt sich fort in allen / Denn alles muß in Nichts zerfallen / Wenn es im Sein beharren will.“ 

Die anderen EU-Staaten teilen aber die kindliche Freude der Deutschen jedenfalls an einer nur das Heute kennenden „Refugees welcome“-trunkenen Politik nicht. Solange Deutschland mit einem laxen Asylrecht und märchenhaften Sozialleistungen Hauptmagnet der Migrationsströme ist, werden andere EU-Staaten kaum bereit sein, die Suppe auszulöffeln, die wir uns durch das Asyl-Desaster selbst eingebrockt haben.

Wach wird in anderen europäischen Staaten registriert, mit welcher neudeutschen Großspurigkeit anderen EU-Staaten diktiert werden soll, was vorbildliches moralisches Verhalten gegenüber Migranten sei. Der britische Politologe Anthony Glees erklärte im Deutschlandfunk, Deutschland gebe sich im Moment als „Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet wird“, es halte sich nicht an die vereinbarten Regeln. Staaten, die sich an geltendes Recht halten, wie Ungarn, werden jedoch der Menschenfeindlichkeit geziehen.

Wenigstens in anderen europäischen Staaten gibt es eine wachsende politische Opposition gegen unkontrollierte Masseneinwanderung, die dortige Regierungen zur Zurückhaltung zwingt. In Großbritannien schwenkt indes Labour auf einwanderungskritischen Kurs und rechnet man im kommenden Jahr sogar mit einer Mehrheit für einen Austritt aus der EU. Würde in Frankreich jetzt gewählt, wäre ein Sieg von Marine Le Pen kein Hirngespinst mehr. Und in Österreich ist die einwanderungskritische FPÖ inzwischen bei Umfragen stärkste Kraft.

Es ist abzusehen, daß die Asyl-Krise bei den kommenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt eine zentrale Rolle spielen wird. Die AfD hat Anfang der Woche ein Forderungspapier vorgelegt, mit dem sie deutlich macht, daß sie die etablierten Parteien in dieser Frage vor sich hertreiben will. Indes verstärkt sich auch die Kritik aus der CSU an der Politik der ruhigen Hand, mit der die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage agiert. Die bayerische Schwester der CDU diskutiert einen 18-Punkte-Plan, der eine Verschärfung der Maßnahmen gegen illegale Einwanderung vorsieht.

Noch versuchen aber die Eliten in Politik und Medien, die längst überfällige Debatte über die Folgen der Asyl-Krise mit einer Mischung aus Gefühlsduselei und Anti-Rassismus-Rhetorik zu verhindern. Mit einer Art Orwellschem Neusprech werden die Begriffe vernebelt. Nicht mehr von illegalen Einwanderern oder Asylbewerbern ist die Rede, immer seltener sogar von Flüchtlingen, inzwischen von „Schutzsuchenden“ und „Neuankömmlingen“. Wir können Gastfreundschaft gegenüber wirklich Asylberechtigten auf Dauer aber nur aufrechterhalten, wenn unser Staat andererseits mit unbedingter Entschlossenheit das Recht durchsetzt, illegale Einwanderung aus anderen Motiven zu unterbinden. Der langjährige Richter am Bundesverfassunsgericht Udo Di Fabio mahnte jetzt, selbst ein „weltoffener Staat muß die Herrschaft über Gebiet und Bevölkerung wahren, sonst bleibt er kein Staat“.

Es ist jetzt Ehrlichkeit nötig, und die im Fernsehen und in den meisten Zeitungen unterschlagenen massiven Sorgen der Bürger müssen endlich gehört werden! Schluß mit der Schönfärberei des Asyl-Desasters. Den Millionen Bürgerkriegsflüchtlingen im Nahen Osten muß vor Ort in Anrainerstaaten geholfen werden, und Deutschland sollte sich daran stärker beteiligen. Wie es in der Eurokrise kein Tabu sein darf, die Rückkehr zu nationalen Währungen ins Auge zu fassen, müssen wir notfalls zu nationalen Grenzkontrollen zurückkehren, wenn die EU-Staaten nicht in der Lage sind, die Außengrenzen gegen illegale Einwanderung zu sichern.