© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

„Im Grunde rassistisch“
Viel ist in der Flüchtlingskrise von Europas Verantwortung und Schande die Rede, doch welche Verantwortung trägt eigentlich Afrika? Und warum reden wir nicht darüber? Der Autor Volker Seitz, ehemals deutscher Botschafter in mehreren afrikanischen Ländern, gibt Antwort
Moritz Schwarz

Herr Seitz, tragen die afrikanischen Staaten eine Verantwortung für die Flüchtlingskrise und Tragödien im Mittelmeer?

Seitz: In der Berichterstattung vieler deutscher Medien schwingt oft der Vorwurf mit, Europa sei an dieser Tragödie schuld. Es gehört in Europa geradezu zum politisch korrekten Ton, die Verantwortung für die Misere nur in Europa und nicht in Afrika zu suchen.

Warum ist das falsch? 

Seitz: Weil damit angedeutet wird, daß Afrikaner unfähig sind, sich selbst zu verwalten und zu regieren, was im Grunde rassistisch ist. Tatsächlich ist weder den gleichgültigen afrikanischen Machthabern noch der AU – der Afrikanischen Union – der tausendfache Tod im Mittelmeer besonderen Aufhebens wert. Angesichts der dramatischen Entwicklungen im Mittelmeer wurde nicht einmal ein Sondergipfel einberufen, um die Notlage vieler Afrikaner zu debattieren. 

Gibt es daran keine Kritik? 

Seitz: Doch, vielen afrikanischen Autokraten sei es schlicht egal, ob ihre Bürger im Meer ertrinken, kritisiert etwa der kenianische Publizist Koigi Wamwere. „Sie sind weder am Allgemeinwohl interessiert noch daran, die Lebensumstände ihrer Bürger zu verbessern, sie wollen sich nur bereichern“, ergänzt der Ex-Minister, der für seine kritischen Überzeugungen in Kenia elf Jahre im Gefängnis saß.

Warum sprechen wir in Europa nicht über diese afrikanische Verantwortung?

Seitz: Afrika hat ein Problem mit seinen Führern. In Sonntagsreden halten sie ihre Werte hoch – was ihrem Alltagshandeln hohnspricht. Wenn europäische Politiker Gespräche mit der Leitung der AU führen, sind sie immer begeistert von deren Verantwortung für die Entwicklung in Afrika. 

Und das ist naiv? 

Seitz: Ja, oft ist es Selbsttäuschung. Die Glaubwürdigkeit der meisten afrikanischen Staatschefs ist beschädigt. Die langjährige Duldung – und Unterstützung mit großzügiger Entwicklungshilfe – der räuberischen autoritären Regime in Afrika hat Europas Regierungen im Mittelmeer eingeholt. 

Also tragen wir doch eine Mitschuld? 

Seitz: Die EU verhält sich etwa zu Menschenrechtsverletzungen erstaunlich zurückhaltend, weil jede Kritik als störend angesehen wird. Und eilfertig machen wir Zugeständnisse, etwa weil wir deren Stimmen in internationalen Gremien brauchen, die prompt darauf getestet werden, ob sie nicht ausbaufähig sind.

Was ist dann mit dem Lösungsansatz der derzeit in Europa gefordert wird, nämlich die Einreise für die afrikanischen Einwanderer zu erleichtern. Würde das das Problem lösen?

Seitz: Ich erinnere da an den SPD-Politiker Erhard Eppler, der schon frühzeitig vor den Folgen der Untätigkeit der Politik gewarnt hat. Bereits 1992 schrieb er in der Zeit: „Wer glaubt, gegenüber dem Osten und dem Süden hätten wir nur die Aufgabe und die Wahl, entweder Millionen oder aber nur Zehntausende von Asylbewerbern ins Land zu lassen, bewegt sich am Rande der Wirklichkeit. Erstens werden wir für die perfekten Slums in Afrika und die werdenden Slums in Rußland oder Rumänien noch viel mehr tun müssen, als wir heute ahnen, und zwar im eigenen Interesse. Zweitens gibt es auf dieser Welt allemal sehr viel mehr Elend, als im kleinen Deutschland jemals Platz hat – abgesehen davon, daß sich keineswegs immer die Elendsten um Asyl bewerben, sondern oft solche, die zu Hause gebraucht würden. Und drittens hat die Politik die verdammte Pflicht, das deutsche Gemeinwesen handlungsfähig zu erhalten.“ 

Vor allem letzterer Punkt scheint in unserer gegenwärtigen Debatte ja kaum noch eine Rolle zu spielen. 

Seitz: Dabei wird Europa, wenn sich nur ein kleiner Prozentsatz der Afrikaner auf den Weg macht – und das werden sie –, finanziell und gesellschaftspolitisch rasch völlig überfordert sein. Europa kann nicht dauerhaft die Folgen des afrikanischen Bevölkerungsdrucks auffangen. Afrika hat derzeit 1,4 Milliarden Menschen, 2030 sollen es bereits 2,4 Milliarden sein und 2050 unvorstellbare 4,4 Milliarden, während Europas Bevölkerung um die 700 Millionen stagnieren wird. Wenn Senegalesen oder Ghanaer ihre Lebenssituation verbessern wollen, ist das nachvollziehbar. Aber es sind eben keine Asylsuchenden, keine Flüchtlinge. Es gibt keinen Grund für Senegalesen, Asyl zu beantragen. Senegal ist eine der ältesten Demokratien in Afrika. Würde auch nur die Hälfte derer, deren Anträge abgelehnt wurden (ohne Duldung) abgeschoben werden, hätten wir jede Menge Platz und Geld, für die wirklich Asylbedürftigen.

Erleichtern wir die Einreise, kämen also nur um so mehr. Stimmt das?

Seitz: Ja, afrikanische Medien informieren häufig über die Migranten in Europa und wie sie es geschafft haben. Das führt – wegen der Hoffnung auf Teilhabe am westlichen Wohlstand – zur sogenannten „Kettenzuwanderung“ aus demselben Land. Afrikaner sind sehr gut über Löhne und Sozialleistungen informiert. Sie wissen auch, daß immer mehr abgewiesene Asylbewerber nicht nach Hause geschickt werden. Dadurch lässt sich die extreme Sogwirkung nach Deutschland erklären. 

Es wäre folglich nicht unmenschlich die Einwanderer wieder nach Hause zu schicken, sondern vernünftig? 

Seitz: Die Europäische Union sollte sich rasch darauf verständigen, zumindest die meisten der Migranten in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Die Aktivisten in den zahlreichen Migrations- und Flüchtlingsvereinen bei uns müßten eigentlich gegen den Exodus der Jungen und Starken aus dem Sorgenkontinent Afrika stimmen, wenn es ihnen tatsächlich um das Wohl und die Zukunft des Kontinents geht.

Der Lösungsansatz unserer Politik ist eine „gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa“, wie Bundeskanzlerin Merkel sagt. Ist das Problem gelöst, wenn wir dies erreichen?

Seitz: Nein, das Problem kann nach meiner Überzeugung nur in Afrika gelöst werden. Wir müßten deutlicher das Versagen der verkrusteten politischen Regime dort ansprechen. Was haben die afrikanischen Politiker getan, um das Leben der Menschen zu verbessern?

Gäbe es in dieser Hinsicht Fortschritte, könnte Afrika dann die Krise wirklich von sich aus meistern?

Seitz: Natürlich hätte ein selbstbewußtes und zudem halbwegs wirtschaftlich erfolgreiches afrikanisches Land die Chance, die Migration seiner eigenen Landsleute zu stoppen. Leider aber fehlen in vielen Staaten dort die wirtschaftlichen Ambitionen der politischen Elite. 

Aber wie könnte Afrika das leisten, wenn es sich nicht mehr selbst im Wege stünde? 

Seitz: Afrika könnte China kopieren. Sinnvoll wäre eine moderne Investionsgesetzgebung und die Schaffung von Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investoren. Der technische Fortschritt könnte wie in China dadurch erreicht werden, daß durch das Kopieren reicherer Länder Entwicklungsschritte übersprungen werden. Es gäbe angesichts der massenhaft verfügbaren billigen Arbeitskräften Möglichkeiten, wenn sich ausländische Investoren und Afrikaner aus der Diaspora fänden.

Die Heimkehr der Afrikaner ist also eine regelrechte Voraussetzung  für die Gesundung des Kontinents?

Seitz: Die afrikanische Diaspora zählt vermutlich einhundert Millionen Menschen. Sie sind eine Quelle von Wissen und Talent. Die Rückkehr der Diaspora könnte neue Ideen und Kapital für den Start neuer Unternehmen bringen. Sie hätten das Expertenwissen und Geschäftsmodelle aus der industrialisierten Welt. Das Geld ist vorhanden. Immer mehr Milliardäre kommen aus Afrika. Afrikas Milliardäre und Millionäre investieren allerdings bisher selten im eigenen Land.

Gibt es denn ein konkretes Beispiel dafür, daß so etwas in Afrika tatsächlich funktioniert?

Seitz: Ja, da lohnt etwa ein Blick nach Ruanda. Migranten aus Ruanda sind in Europa sehr selten. Warum? Weil sich das Land als wirtschaftlicher Leuchtturm stolz von vielen afrikanischen Staaten abhebt. Ruanda hat eine gesellschaftliche Entwicklung, stabile Gemeinwesen und große wirtschaftliche Fortschritte vorzuweisen. Man kann sicherlich vieles kritisch sehen. Präsident Paul Kagame pflegt einen autoritären Stil mit starken Zügen einer Erziehungsdiktatur, aber Ruanda bürgt für Stabilität und profitiert davon, daß seine Führung Resultate vorweisen kann. Gelder, die anderswo im Korruptionssumpf versickern, gehen in Ruanda tatsächlich in Entwicklungsprojekte. Nur einige notorisch kritische Kolumnisten versuchen die Politik des „aufgeklärten Autokraten“ Kagame international herabzuwürdigen und relativieren die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge. Aber die Stabilität dort kommt allen Nachbarstaaten zugute.

Was müßte Europa tun, um diesen Prozeß in Afrika voranzubringen?

Seitz: Es ist die Aufgabe der Afrikaner, die Entwicklung voranzutreiben, aber ich sehe unsere Verantwortung dort, wo Eigenverantwortung im Vordergrund steht, daran teilzuhaben. Ich habe keine Patentrezepte, aber mit kleineren konkreten Schritten kann man viel bewirken.

Zum Beispiel?

Seitz: Rupert Neudeck hat kürzlich vorgeschlagen: „Vielleicht wäre es ein Modell, wenn jeder Staat der westlichen Welt mit einem Entwicklungsland einen Vertrag schließt. Die Bundesregierung würde etwa jungen Menschen aus Ghana hier eine Ausbildung finanzieren, aber ein Teil des Geldes, was die Leute anschließend hier verdienten, würde einbehalten und erst ausbezahlt, wenn die Leute wieder zurück in ihr Heimatland gehen.“ Dies sollte auch in einem Pilotprojekt erprobt werden. 

Zahlen wir nicht schon viele Milliarden an Entwicklungshilfe?

Seitz: Es gibt keinen Beweis, daß die hunderte von Milliarden, die in Entwicklungsländer in Afrika geflossen sind, einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Lebenschancen in diesen Ländern geleistet hätten.Wer Armut bekämpfen will, muß Arbeit schaffen. Deshalb sollte ein größerer Teil unserer Hilfe als größere Kredite zu Risikokonditionen vergeben werden. Eine Beratung zu Geschäftsplänen und Qualitätskontrolle könnte durch Hilfsorganisationen erfolgen. Mit Förderkrediten könnten dann etwa Zementwerke, Fruchtsaftfabriken oder Hersteller von Generika gefördert werden. Dadurch würden neue Arbeitsplätze gefördert und die Menschen aus der Armut befreit. Über Länder-Patenschaften könnten einige der Fluchtursachen bekämpft werden. Auch würde sich Europa durch den Fokus auf einzelne Staaten, etwa im Trockengürtel des Sahel, aus dem die meisten afrikanischen Migranten stammen, bei seinen Hilfsaktionen weit weniger als bislang verzetteln. Wir sollten dabei nur Staaten unterstützen, die bereit sind, die eigene Regierungsarbeit und zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung wie etwa die berufliche Bildung konsequent zu fördern.

Setzt das aber nicht voraus, daß wir aufhören, die Schuld für die Auswandererströme und die Toten im Mittelmeer bei uns zu suchen?

Seitz: Natürlich, über die echten Probleme Afrikas darf bei uns nicht weiter geschwiegen werden! Solange die faulen Systeme immer wieder schöngeredet werden, wird es für die Menschen kaum Verbesserungen in ihren Lebensverhältnissen geben. Ohne ernsthaften Kampf gegen Korruption sollte es für die Verantwortlichen keine Visa mehr für Europa geben. Nicht mehr in Europas Luxusboutiquen shoppen zu können, würde die Herren und ihre Ehefrauen sehr hart treffen.






Volker Seitz, der Afrika-Experte diente als deutscher Botschafter in Benin, Kamerun, Äquatorialguinea und Zentralafrika. Zwischen 1965 und 2008 war der 1943 geborene Karlsruher 17 Jahre für das Auswärtige Amt auf dem Schwarzen Kontinent im Einsatz. Mit seinem Buch „Afrika wird armregiert“, 2014 in 7. Auflage erschienen, und seiner Unterstützung des „Bonner Aufrufs“ macht er sich für eine Reform der Entwicklungshilfe stark.

Foto: Flüchtlinge werden vor Lampedusa von einem europäischen Rettungsschiff geborgen: „Vielen afrikanischen Machthabern ist es schlicht egal, ob ihre Bürger im Meer ertrinken“

 

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