© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Jeremy Corbyn. Der Linksaußen hat gute Chancen, neuer Labour-Chef zu werden
Der rote Rächer
Robert Grözinger

Entsteht in Großbritannien ein linker EU-Skeptizismus? Sollte am Samstag Jeremy Corbyn erwartungsgemäß neuer Vorsitzender der Labour-Partei werden, ist das nicht ausgeschlossen. Sensationell ist schon, daß der weißbärtige Rebell der Favorit ist. 238mal hat er in der letzten Legislaturperiode anders gestimmt als seine Fraktionsführung – bei etwa 25 Prozent der Abstimmungen. 

Seit 1983 gehört er dem Parlament an und ist immer ein Links-Außenseiter gewesen. Der Grund für seine starke Position im Rennen um das Spitzenamt ist einerseits die Enttäuschung nach der zweiten verlorenen Unterhauswahl in Reihe, andererseits eine bizarre neue Regelung bei der Vorsitzendenwahl: Nicht nur Fraktion, Gewerkschafts- und Parteimitglieder dürfen an der Urwahl teilnehmen, sondern auch – gegen ein Entgelt von drei Pfund (etwa vier Euro) – „Unterstützer“. Gerade aus diesem Kreis erwarten Beobachter den größten Zulauf für Corbyn. Dies sind Menschen, die die von Tony Blair in den neunziger Jahren auf mehr Wirtschaftsfreundlichkeit getrimmte Partei nur deshalb wählten, weil aufgrund des Mehrheitswahlrechts keine „Linkspartei“ entstanden ist. 

Nach dem Scheitern der Labour-Pragmatiker hoffen nun viele wieder auf die reine linke Lehre. Die Konservativen freuen sich schon; sie glauben, mit Corbyn verscherze sich Labour jegliche Mehrheitschance – und sind mit dieser Meinung nicht allein.

Der will die Verpflichtung zur Verstaatlichung wieder ins Grundsatzprogramm seiner Partei aufnehmen und die Zentralbank anweisen, Geld zu drucken, um in die Infrastruktur zu investieren. Der Sohn zweier Veteranen des Spanischen Bürgerkrieges, Jahrgang 1949, eckte schon immer an. Zwei Wochen nach dem IRA-Bombenattentat 1984 auf Margaret Thatcher etwa traf er sich mit Vertretern von Sinn Féin im Parlament. Heute unterhält er freundschaftliche Beziehungen zu Hamas. Aber das stört seine Unterstützer nicht. 

Corbyns Aufstieg ist ein weiteres Symptom des gegenwärtigen Trends in der westlichen Welt zum polarisierenden, „authentischen“ Politiker. Reicht das für einen Wahlsieg? Überraschungen sind nicht ausgeschlossen – besonders wenn die Finanzkrise wieder akut wird. Dann ist es denkbar, daß ein Programm gewählt wird, an dessen Scheitern vor Jahrzehnten sich kaum noch jemand erinnert. 

Corbyns EU-Skeptizismus beschränkt sich bisher auf Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards. Doch hat er gedroht, für den Austritt aus der EU zu stimmen, wenn Brüssel nicht auf seine Forderungen eingeht – was nicht zu erwarten ist. Damit könnte er sogar Ukip Stimmen abspenstig machen. Nach Corbyns Wahl wird sich zeigen, ob die Thatcher-Revolution den Sozialismus auf der Insel tatsächlich dauerhaft unwählbar gemacht hat oder nicht.