© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Erst das Fressen, dann keine Wahl
Cornelius Persdorf

Die Abgeordneten sind aus ihrem Urlaub zurück und haben ihre Arbeit im Bundestag wieder aufgenommen. Doch schon bei der vergangenen Bundestagswahl zeigte sich: Gut einem Viertel der Deutschen ist das offensichtlich egal. Sie gingen nicht zur Wahl. „Vor allem sozial benachteiligte Menschen aus den Milieus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht verzichten auf ihr Wahlrecht“, warnte jetzt der Demokratie-Experte der Bertelsmann Stiftung, Robert Vehrkamp, bei der Vorstellung einer Analyse zum Wählerverhalten. Die Sinus-Studie, für die die Experten aus Gütersloh in Kooperation mit Infratest Dimap Daten aus 640 repräsentativen Wahlbezirken auswerteten, untersucht den Zusammenhang zwischen sozialem Stand und Wahlbeteiligung erstmalig anhand des sozialen Milieus und nicht anhand der Stadtteilzugehörigkeit. Das soziale Milieu hängt wiederum vom sozialen Status sowie Werten und Einstellungen zusammen. Demnach gibt es einen klaren Verlierer: Die wenig werteorientierte, konsumfreudige Mittel- und Unterschicht liegt mit 47,7 Prozent noch hinter dem Prekariat (58 Prozent) auf dem letzten Platz und unterbietet damit die allgemeine Beteiligung an der Bundestagswahl (71,5 Prozent) um 24 Prozentpunkte. 

Vehrkamp sieht den Grund der konsumorientierten Wahlfaulheit in sozialen Problemen, die mit Konsum betäubt würden. Die verstärkte Konsumorientierung führe zu wachsender Distanz gegenüber den Regeln der Gesellschaft und folglich zu Gleichgültigkeit, die schließlich in Wahlenthaltung ihren Ausdruck finde. Da die Apathie die sozialen Probleme vergrößere, ergebe sich ein Teufelskreis. „Soziale Probleme verbinden sich mit einer ausgeprägten Konsumneigung, Spaßorientierung und Distanz gegenüber Regeln der Gesellschaft zu einem typischen Nichtwähler-Klima“, erklärte er. „Individualisierung und Wertewandel führen in allen sozialen Schichten zu einer Schwächung der Wahlnorm.“

Für diese Behauptung spricht, daß man bei den Schichten der eifrigen Wähler nicht vermuten würde, sie litten unter sozialen Problemen: Gutverdiener aus dem liberal-intellektuellen Milieu führen mit 88 Prozent, es folgt die wertkonservativ-etablierte Wählerschicht mit 83 Prozent. Die Schicht der sogenannten „Performer“ (neudeutsch für „kreative Leistungsträger“), deren Merkmal eine erfolgreiche berufliche Etablierung ohne feste Weltanschauung ist, weist eine Wahlbeteiligung von 81,3 Prozent auf. Die Quintessenz der Studie ist, daß die Wahlbeteiligung desto geringer ausfällt, je wichtiger dem Wähler seine Selbstverwirklichung ist.  

Die Studie zeigt auch der AfD den Weg: Wertkonservative und gebildete liberale Wähler bilden für sie die ergiebigste Wählerschicht, kann aus den Zahlen herausgelesen werden. Daraus ergibt sich eine klare Zauberformel: Wahlen werden demnach für die AfD mit liberaler Staatsskepsis gepaart mit einer prononcierten Rückbesinnung auf bewährte Werte wie Verantwortungsbewußtsein und Pflichtgefühl gewonnen, und nicht in der schwammigen „Mitte“.