© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

„Provokationen der römischen Kolonialisten“
Sardinien: Im Kampf gegen ein atomares Endlager auf ihrer Insel schließen die stolzen Sarden ihre Reihen / Fruchtbare Symbiose von Nation und Natur
Marco F. Hermann

Ein nationales Endlager für 90.000 Kubikmeter Atommüll: das sind die Pläne des italienischen Staatskonzerns Società Gestione Impianti Nucleari (Sogin). Nach jahrelanger Standortsuche kristallisiert sich die Region Sardinien als mögliche Lösung heraus – und treibt damit die Inselbewohner auf die Barrikaden.

Umweltschützer verweisen auf die Flora und Fauna der zweitgrößten Mittelmeerinsel, die als nahezu unberührt gilt. Sardinien ist eine der größten italienischen Regionen, doch vergleichsweise dünn besiedelt und kaum von Industrie geprägt. Die Tourismusbranche, eine der Haupteinnahmequellen der Region, stellt die Naturbelassenheit der Insel in den Vordergrund. Radioaktiver Abfall im Urlaubsparadies? Das erscheint undenkbar.

Sogin sieht das offenbar anders. Sardinien zählt zu den wenigen Gebieten Italiens, die weder Vulkanismus noch Erdbeben bedrohen. Die Isolation und geringe Urbanisierung führen Experten von Sogin als Vorteil ins Feld; zudem soll der Bau eines Technologieparks in unmittelbarer Nähe des Endlagers für Arbeitsplätze und neue wirtschaftliche Impulse sorgen. Sardinien gehört zwar nicht zu den ärmsten Regionen des Mezzogiorno, liegt aber im europäischen Wirtschaftsvergleich unter dem Durchschnitt.

Die Mehrheit der Sarden läßt sich nicht von diesem Angebot locken – im Gegenteil, man fühlt sich von der Zentralregierung in Rom verraten. Wie Sizilien oder Trentino-Südtirol gehört Sardinien zu den Regionen Italiens mit Autonomiestatut. Die Regionalverfassung der Insel erkennt die Sarden sogar als eigenes Volk an.

Die Unruhe läßt sich aber vor allem darauf zurückführen, daß die Sarden bereits vor Jahren ihren Willen klar geäußert hatten. Im Jahr 2011 liebäugelte Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit dem Wiedereinstieg in die Atomenergie; dabei war auch der Neubau von Kernkraftwerken auf Sardinien im Gespräch. Die regionalistisch-separatistische Partei Sardigna Natzione Indipendentzia (SNI) initiierte daraufhin ein Referendum auf Regionalbasis. Obwohl dieses nur eine „beratende“ und keine bindende Funktion hatte, stimmten 97 Prozent der Wähler gegen neue Kraftwerke auf der Insel sowie gegen eine Lagerung radioaktiver Abfälle – worauf die Regierung ihre Pläne aufgab.

Die neuerlichen Gedankenspiele über ein Endlager erscheinen daher den verschiedenen sardischen Parteien – von denen einige für größere Autonomie, andere für offene Sezession eintreten – als Provokation. Wenig verwunderlich, daß einer der Vorkämpfer der Anti-Atom-Bewegung Bustianu Cumpostu ist – der Parteivorsitzende der SNI.

Dabei ist die SNI, trotz ihrer Rolle im Protest gegen ein mögliches Endlager, nur eine Splitterpartei mit wenigen Prozenten Stimmenanteil. Traditionell stellt die regionalistische Szene Sardiniens ein Mosaik aus über einem Dutzend Parteien mit verschiedensten politischen Ideologien dar, die aufgrund ihrer Differenzen nicht über einstellige Prozentwerte hinausgelangen. So vereinten bei der sardischen Regionalwahl 2014 die regionalistischen Parteien zusammen ein Viertel aller Stimmen auf sich, erlangten aber nur acht von 60 Sitzen.

Somit ist auch die Endlagerfrage in letzter Instanz nur ein Aufhänger für eine weitaus tiefer gehende Entwicklung, die nicht nur die sardischen Regionalisten betrifft: die stärker werdende Betonung von Volk und Territorium, von Nation und Natur. In ihren Protestplakaten prangern die Sarden eine „italienische Kolonisation“ an. Die Natur Sardiniens gilt daher zugleich als Teil der sardischen Identität.