© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Halal auf Expansionskurs
Alltagsleben: Mit der Zuwanderung steigt auch die Nachfrage nach islamisch-korrekten Lebensmitteln / Grauzonen und die Suche nach dem Zertifikat
Lion Edler

Es ist nur eine Fläche von wenigen Zentimetern auf einer Sirupflasche – doch sie wurde zum Politikum: Im belgischen Aubel hat die Siroperie Meurens ein Halal-Zertifikat eingeführt. Eine Welle aufgebrachter Reaktionen, vor allem aus dem Internet, folgte auf dem Fuße. Ein Kulturgut dürfe nicht verändert werden, schrieben manche Kommentatoren nach einem Bericht des deutschsprachigen BRF. „Wir sind eine Familie praktizierender Katholiken. Es ist nicht mehr gut für uns, den Sirup zu essen“, schreiben andere. Manche argwöhnten gar, der Sirup sei nunmehr „islamisiert“ worden. Nach über 600 Zuschriften entschloß sich die Zeitung La Meuse, den Artikel von seiner Netzseite zu nehmen.

Milliardenumsatz auch in Deutschland  

Der Fall des Halal-Siegels dürfte allerdings noch zu den Themen mit dem geringeren Konfliktpotential zählen. Schließlich änderte sich nichts an der Rezeptur oder der Herstellung der berühmten Sirupmarke Vrai Sirop de Liège. Vielmehr geht es schlicht ums Geschäft: Für den Exportumsatz ist es angesichts eines stetig wachsenden Halal-Marktes relevant, ob die Produkte aufgrund eines entsprechenden Siegels problemlos exportiert werden können. Der Jahresumsatz von Halal-Produkten soll in Belgien bei rund 200 Millionen Euro liegen und weiter wachsen. Weltweit schätzt man das Umsatzvolumen auf rund 670 Milliarden US-Dollar, europaweit auf etwa 70 Milliarden US-Dollar und deutschlandweit auf vier bis fünf Milliarden Euro. Die Entwicklung liegt nicht zuletzt in demographischen Entwicklungen begründet: Weltweit etwa 1,7 Milliarden Muslime haben ein Bevölkerungswachstum von jährlich rund 1,84 Prozent. Eine Entwicklung, die sich auch in Belgien und einem Großteil der EU-Staaten auf den Markt auswirkt. 

„Ein Halal-Zertifikat für belgische Produkte ist nichts Ungewöhnliches“, erklärt der Berater der wallonischen Exportagentur AWEX, Marc Dechamps, in dem Bericht des BRF. Das Siegel sei wichtig, denn der islamische Konsument könne dadurch sichergehen, „daß der Lütticher Sirup seinen Speisevorschriften entspricht und keine verbotenen Zutaten enthält.“

Konfliktträchtiger wird es, wenn es nicht um Sirup, sondern um fleischhaltige Halal-Produkte geht. Kritiker sehen die islamische Halal-Praxis, aber auch die koschere Schlachtung im Judentum als unvereinbar mit dem Tierschutz an. Bei der Halal-Schlachtung werden Tiere – anders als im heutigen Mitteleuropa üblich – ohne vorherige Betäubung getötet. Mit einem speziellen Messer wird ein einziger großer Schnitt quer durch die Halsunterseite vorgenommen, sodaß die Blutgefäße sowie die Luft- und Speiseröhre durchtrennt werden. Damit soll das komplette Ausbluten des Tieres ermöglicht werden. Ein nichtgeschlachtetes Tier ist nach islamischem Brauch nur erlaubt, wenn es von extra dafür abgerichteten Jagdtieren getötet wurde.

Die Vorschriften folgen einer Anweisung im Koran, Sure 5, Vers 3: „Verboten ist euch (der Genuß von) Fleisch von verendeten Tieren, Blut, Schweinefleisch und (von) Fleisch, worüber (beim Schlachten) ein anderes Wesen als Allah angerufen worden ist, und was erstickt, (zu Tod) geschlagen, (zu Tod) gestürzt oder (von einem anderen Tier zu Tod) gestoßen ist, und was ein wildes Tier angefressen hat – es sei denn, ihr schächtet es.“ Da das „Verendete“ verboten ist, lehnen die meisten Muslime eine vorherige Betäubung des Tieres ab – denn sie befürchten, daß die Tiere diese Betäubung nicht überleben. 

Pinsel aus Schweineborsten stören beim Backen  

Ähnlich verhält es sich bei „koscheren“ jüdischen Speisen, nur daß die Vorschriften dort eher noch strenger sind als im Islam. Die Koscher-Vorschriften werden jedoch vorwiegend vom orthodoxen Judentum verfolgt. Das Schlachtfleisch darf demnach wenig bis kein Cortisol enthalten; die Schlachtung muß von einem eigens ausgebildeten Schächter vorgenommen werden; das Schlachtmesser muß in einwandfreiem Zustand sein. Aufgrund der rigiden Vorschriften gilt also: Koscheres Fleisch ist auch halal, aber Halal-Fleisch ist nicht zwingend koscher. 

Für viele Tierfreunde ist jedoch das eine sowenig hinnehmbar wie das andere. Sie verweisen auf manche Videos, die die Tiere in einem mehrminütigen Todeskampf zeigen. Die Schlachtung geschehe also gerade nicht kurz und schmerzlos. Die Befürworter des Schächtens meinen, daß bei korrekter Ausführung ein schnelles Ausbluten gewährleistet ist. Es komme zu einem schlagartigen Abfall des Blutdrucks und damit der Sauerstoffversorgung des Gehirns, weshalb nach kurzer Zeit die Bewußtlosigkeit ohne größere Schmerzen stattfinde. Grobe Fehler bei der Schächtung führten freilich zu Qualen, was aber auch bei anderen Schlachtmethoden der Fall sei. Gegner wiederum betonen, daß die Bewußtlosigkeit des Tieres nicht sofort eintritt, da die Blutversorgung des Gehirns auch durch andere Körperteile im Bereich der Wirbelsäule und des tiefen Nackens erfolge.

Wegen der ethischen Bedenken entschloß sich Dänemark daher, die Halal-Schlachtung zu unterbinden. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Dänemarks Agrarminister Dan Jørgensen ein Gesetz, das die Schlachtung von Tieren nach religiösen Riten verbietet. „Tierrechte kommen vor der Religion“, meinte Jørgensen dazu im dänischen Fernsehen. Das Königreich Dänemark gehört zu den Hauptexporteuren von Halal-Fleisch. Jüdische und islamische Vertreter protestierten gegen das Gesetz und sahen in  ihm eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit. Doch Dänemark steht nicht ganz allein: Norwegen, Schweden, Island, Polen und Liechtenstein verfügen über ähnliche Gesetze.

In Deutschland ist die Rechtslage komplizierter. Grundsätzlich sehen EU-Richtlinien und das deutsche Tierschutzgesetz (Paragraph 4a) vor, daß Tiere vor Beginn des Blutentzugs zum Zweck des Schlachtens betäubt werden müssen. Zudem entschied das Bundesverwaltungsgericht noch 1995, daß das Schächten grundsätzlich untersagt ist, weil es nach den Glaubensregeln zwar üblich, aber eben nicht „zwingend“ vorgeschrieben sei. Doch es gibt Ausnahmeregelungen für Religionsgemeinschaften, die bis 2002 vorrangig für Juden gewährt wurden. Dann kam die Klage eines muslimischen Metzgers, der vor dem Bundesverfassungsgericht gewann. Ihm war die Ausnahmegenehmigung zum Schächten nach einigen Jahren wieder entzogen worden. Der erste Senat entschied, eine Behörde dürfe eine Erlaubnis zur Schächtung nicht mit der Begründung verweigern, daß es für den gesamten Islam keine entsprechende zwingende Regelung gebe. 

Rechtlich ist also weitgehend grünes Licht gegeben. Auch in Deutschland gibt es derzeit rund 400 halal-orientierte Unternehmen, darunter seit Jahren der bayerische Wurst- und Schinkenhersteller Höhenrainer Delikatessen GmbH oder nun auch das erste deutsche Halal-Steakhaus in Frankfurt am Main. Nicht nur Nahrungsmittel, auch Pinsel für das Backwerk – Schweineborsten sind tabu – werden zertifiziert: Der Automobilzulieferer Schaeffler bietet Wälzlagerfett mit Halal-Siegel an. „Die Speisegesetze der jüdischen und muslimischen Bevölkerung gelten nicht nur für die Lebensmittel und Getränke selbst, sondern auch für die Maschinen und Umgebung während der Herstellung“, sagte ein Unternehmenssprecher.

Workshops für besseres Halal-Agrarmarketing 

Derweil verfügt die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Hannover bereits über eine Arbeitsgruppe „Halal und Koscher“, die Workshops mit Agrarmarketing-Verbänden durchführt. Eine geplante Messe für Halal-Produkte in Stuttgart, bei der 80 Aussteller auf 5.000 Quadratmetern ihre Produkte vorstellen wollten, wurde im vergangenen Jahr jedoch aus Mangel an Interesse abgesagt. 

In deutschen Apotheken gibt es ebenfalls einen kleinen, aber wachsenden Markt für Medikamente mit Halal-Siegel. „Es besteht ein wachsender Bedarf an halal-zertifizierten Produkten und auch Arzneimitteln, denn das Bewußtsein der Muslime hierfür nimmt weltweit zu“, erklärte Jacqueline Schönfelder vom Pharmaunternehmen Glaxo-Smith-Kline (GSK) auf der Mitgliederversammlung des Deutschen Pharmazeuten-Verbandes. Viele pharmazeutische Unternehmen hätten diesen Trend bereits erkannt und strebten Halal-Zertifikate für ihre Präparate an.

Mit dem Siegel gibt es in Deutschland nicht nur politische, sondern auch organisatorische Probleme. Denn es gibt kein allgemein anerkanntes Gütesiegel, das von der Mehrheit der Muslime akzeptiert wird – sondern eine Vielzahl von Siegeln. So könne der Käufer nicht einschätzen, welche Kriterien dem Siegel zugrunde lägen, bemängelt die Verbraucherzentrale Niedersachsen. Daher sei es „unabdingbar, daß islamische Gelehrte in Kooperation mit Herstellern, Handel und Gesetzgeber eine Lösung schaffen, die Mindestanforderungen festlegt“.

Die bayerische SPD brachte unterdessen einen Antrag in den Landtag ein, der sich dafür aussprach, Halal-Siegel auf bayerischen Fleischprodukten anzubringen. Einerseits könne damit den Muslimen die Möglichkeit gegeben werden, „religionskonforme und zudem regionale Produkte zu konsumieren“. Andererseits könne damit ein „attraktiver Markt für die regionalen Erzeuger“ gewonnen werden. Doch die regierende CSU ließ den Antrag im Landtag scheitern, weil sie ein solches Signal als unnötig erachtet. Zudem hatte sie insbesondere auch organisatorische Bedenken: Unklar sei, mit welchem Verband oder welcher Organisation die Kriterien für ein Halal-Siegel ausgehandelt werden könnten. 




Verwirrung um die Halal-Zertifikate 

Parallel zur steigenden Nachfrage nach Halal-Produkten – dazu zählen nicht nur Lebensmittel, Kosmetika und Arzneimittel, sondern ebenso Zulieferer, Finanzinstitute sowie Gastronomie- und Touristikunternehmen – wächst auch der Drang, die Produkte mit Zertifikaten verbraucherfreundlicher zu machen. Diverse Siegel unterschiedlicher sunnitischer, schiitischer oder türkischer Zertifizierer machen sich Konkurrenz und verwirren den Verbraucher. Da gibt es die Rüsselsheimer Halal-Control e.K. mit Verbindungen nach Malaysia, die schiitische  m-haditec in Bremen, das vom Islamrat für Deutschland und vom Bündnis der islamischen Gemeinden in Norddeutschland e.V. (BIG e.V.) geförderte Europäische Halal Zertifizierungsinstitut (EHZ). Problematisch ist laut der Verbraucherzentrale Niedersachsen jedoch, daß eine zentrale, standardisierte Prüf- und Zertifizierungsstelle fehle. Entsprechend gebe es kein allgemein anerkanntes Gütesiegel, das von der Mehrheit der Muslime und dem Handel akzeptiert wird. Angesichts der Vielzahl an Siegeln könne beim Einkauf nicht eingeschätzt werden, welchen Kriterien das vorliegende Siegel folge. Doch nicht nur in Deutschland gibt es Probleme. Zunehmend  drängen Ausländer auf den deutschen Halal-Markt. Dazu gehören nach Angaben des Halal-Experten Peter Z. Ziegler nicht nur die „französischen Zertifizierer wie die Grande Mosquée de Paris, das Islamische Informations- und Dokumentationszentrum (IIDZ) aus Österreich und Experten aus Malaysia, sondern vor allem der US-Zertizierer IFANCA.“