© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Fremd im eigenen Land
Verwurzelung und Identität: Ein französischer Philosoph prophezeit die „Rache des Nationalismus“
Karlheinz Weißmann

Die Kanzlerin hat die Flüchtlingsmassen zur „nationalen Aufgabe“ erklärt und deutlich gemacht, daß die „Nation“, daß „Deutschland“ die Herausforderung annehmen müsse. Dann hat der Bundespräsident geäußert, daß es an der Zeit sei, die „Nation“ neu zu definieren. Die Deutschen müßten sich „von dem Bild einer Nation lösen, die sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig“.

Man kann die eine wie die andere Äußerung als Politikjargon abtun, Gelegenheitsgerede, aus Versatzstücken montiert, ohne tieferen Sinn. Man kann sie aber auch als Symptom nehmen für die Unklarheit der Sprache, die weniger auf Unklarheit des Denkens als auf Manipulation hinweist. Merkel wie Gauck rechnen damit, daß es niemand so genau wissen will, und darauf, daß der Begriff Nation positiv besetzt ist. Das war in Deutschland während der letzten fünfzig Jahre keine Selbstverständlichkeit. Anfangs gab es noch die schweigende Mehrheit, die an Wort und Sache festhielt (bis zu Kohls „Wende“), dann eine kurze Zeit der neuen Euphorie (zwischen Mauerfall und Rostock/Hoyerswerda) und schließlich einen Prozeß der Wiederaneignung (im Gefolge des „Sommermärchens“). Allerdings hatten Fähnchenschwenken und schwarzrotgoldene Schminke doch eher Eventcharakter und überdeckten die Ratlosigkeit angesichts der entscheidenden Fragen: Was macht diese Nation aus? Wer gehört dazu und wer nicht? Wie kommt diese Nation als Einheit zustande?

Fehlende Orientierung am Gemeinwohl

Wenn die Politische Klasse von der Nation spricht, nutzt sie nur eine Pathosformel (um die Haftung für die NS-Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, vor „Dunkeldeutschland“ zu warnen etc.) oder will die Solidargemeinschaft zu etwas bringen, was nicht in deren Interesse liegt (die Übernahme der griechischen Schulden oder mehrerer Millionen Neubewohner etc.). Die fehlende Orientierung der Staatsspitze am Gemeinwohl – mithin dem Wohl der Nation – ist aber trotzdem erklärungsbedürftig. Angesichts der Masseneinwanderung dieser Wochen zum Beispiel. Berthold Kohler hat in einem FAZ-Leitartikel (2. September) die Ansicht geäußert, daß die Mischung aus Entscheidungsflucht und Gesinnungstüchtigkeit bloß als Fortsetzung des deutschen „Sonderwegs“ zu begreifen sei. So wie die Deutschen eine „verspätete Nation“ waren, weil sie dem westlichen Prozeß der Nationalstaatsbildung retardiert folgten, so forcierten sie jetzt die Entstehung eines „verspäteten Vielvölkerstaates“, indem sie die Einwanderungspolitik Großbritanniens oder Frankreichs in der Nachkriegszeit nachahmten.

Der Gedanke hat etwas Bestechendes, weil er die deutsche Formschwäche in Rechnung stellt, allerdings läßt er die große Ähnlichkeit der sozialen Prozesse, die in Europa wie den USA ablaufen, zu stark in den Hintergrund treten. Faktisch arbeiten die politischen, ökonomischen und intellektuellen Eliten im gesamten Wohlstandsgürtel seit geraumer Zeit und koordiniert an der Schaffung „multikultureller“, also multirassischer, multiethnischer, multireligiöser Systeme, die zwar zum Zweck der Beschwichtigung weiter unter „Gesellschaft“, „Republik“ oder eben „Nation“ laufen, mit dem ursprünglichen Sinn dieser Begriffe aber immer weniger zu tun haben. Erst nachdem der Prozeß von der Bevölkerung erstaunlich lange Zeit hingenommen wurde, hat sich dagegen eine breitere Opposition gebildet. Gemeint sind jene Bewegungen, die man als „populistisch“ bezeichnet. Sie wenden sich gegen Steuerlast und Ausbau der Bürokratie genauso wie gegen die Macht Brüssels oder die steigende Verbrechensrate. Im Zentrum stehen aber immer die Abwehr des großen Zuzugs und die Verteidigung der nationalen Identität.

Exemplarisch ist die Bedeutung dieses „Markenkerns“ am Programm des Front National zu erkennen, jener französischen Partei, die trotz der massiven Bekämpfung durch die Etablierten mittlerweile bis an die Schwelle der Macht gekommen ist. Unter den aktuellen Erscheinungen in Frankreich gibt es deshalb eine große Zahl von Büchern, die sich mit dem Phänomen „Front National“ befassen. Die meisten sind nur auf Entlarvung fixiert, aber es gibt auch Ausnahmen. Analysen, die weder Sensationsbedürfnis noch antifaschistische Reflexe bedienen wollen, etwa der Band des Philosophen Pierre-André Taguieff „La revanche du nationalisme“ – „Die Rache des Nationalismus“ (Néopopulistes et xénophobes à l’assaut de l’Europe, Presse Universitaires de France, Paris 2015, kartoniert, 310 Seiten, 19 Euro).

Taguieff zitiert zwar Isaiah Berlin mit der Formulierung, daß der Nationalismus eine „Art pathologischer Selbstverteidigung“ sei, aber er pathologisiert nicht die Nationalisten. „Nationalismus“ ist bei ihm ein Synonym für Populismus: die mehr oder weniger radikale, im Wesen aber defensive Wendung von einzelnen oder ganzen Schichten zur Nation als ausschlaggebender, Schutz gewährender und Legitimität stiftender Einheit. Getragen werde diese Bewegung nur zum Teil von denen, die man als „Modernisierungsverlierer“ apostrophiere, daneben aber auch von Menschen, die den Zerfall ihrer Lebenswelten nicht länger ertragen und nicht die Antworten, die ihnen die Verantwortlichen liefern, die auf anonyme Prozesse des Marktes, der Globalisierung oder europäischen Integration hinweisen. Eigentlich, sagt Taguieff, müsse man den „Neonationalismus“ verstehen, als Reaktion der Basis – des „Volkes“ – auf den „Antinationalismus der Eliten in Staat und Kultur, deren erklärtes Ideal es ist, die Nationen zu ‘denationalisieren’“.

Taguieffs Analyse ist auf Deutschland übertragbar

Bemerkenswerterweise bezieht sich Taguieff im folgenden auf Herder mit der Feststellung, daß die Nationen unter allen Angriffen den am wenigsten verzeihen, der sie ihres Wesens, ihres Charakters, ihrer Besonderheit in Geist und Sprache, zu berauben suche. Das erklärt auch, warum er nicht damit rechnet, daß sich der Populismus von selbst erledige und das Establishment wieder zur Tagesordnung übergehen könne. Der Störenfried werde bleiben und an Einfluß gewinnen. Das verkenne nur derjenige, der die Bedeutung des Faktors „Identität“ übersehe. Die Erfahrung lehre aber, daß weder Wohlstand noch mediale Ablenkung auf Dauer den Menschen hindern könnten, nach seinen „Wurzeln“ zu suchen. „Enracinement“ – Verwurzelung, auch darauf weist Taguieff hin, sei ein Begriff, den zu dämonisieren so wenig Erfolg haben werde wie das Bemühen, das Wort „Identität“ zu diskreditieren.

Allerdings glaubt er nicht, daß seine Argumentation die Eliten beeindrucken wird. Ihnen fehle es an der notwendigen Skepsis im Hinblick auf die Machbarkeit der Dinge und die Natur des Menschen. Sie seien offenbar entschlossen, eine Politik fortzusetzen, die letztlich zerstörerisch und selbstzerstörerisch wirke. Taguieff hat dabei die Lage in Frankreich vor Augen, aber seine Analyse ist im Grundsatz auch auf Deutschland übertragbar.

Das gilt nicht nur in bezug auf die von ihm festgestellte „Impotenz“ der Politischen Klasse, sondern auch im Hinblick auf die Entschlossenheit, die eingeleitete Entwicklung weiter voranzutreiben, weil außer Nichthandeln bloß das Weiter-so erlaube, die notwendige Revision zu vermeiden. Man kann diese Verblendung wohl nur als Folge von langdauerndem Machtbesitz erklären, die eingewöhnte Selbstverständlichkeit, mit der die da oben denen da unten drohen, wenn die sich nicht wohlverhalten. Oder mit dem sie jenen schulmeisterlichen Ton anschlagen, in dem die Kanzlerin die Deutschen mahnt, ihre Tüchtigkeit einzusetzen, den Migrantenströmen Platz zu machen, und der Präsident sie auffordert, ihre Gefühle auf Vordermann zu bringen und sich das Empfinden von Fremdheit im eigenen Land abzugewöhnen, das jeden befällt, der durch unsere Straßen geht.