© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Not kennt kein Gebot?
Ob Euro-Rettung oder Flüchtlingskrise: Gesetze und europäische Verträge scheinen nicht mehr zu gelten
Dirk Meyer

Es fehlt an Europa, und es fehlt an Union.“ Mangelnde Solidarität und mangelnde Rechtsstaatlichkeit – beides waren zentrale Themen in Kommissionspräsident Junckers Rede zur Flüchtlingssituation. Auch zur Euro-Rettungspolitik könnten diese Wertedefizite passen. Was sind die Unterschiede, was die Gemeinsamkeiten beider Krisen?
Mit Formulierungshilfen französischer Fachleute trugen 18 Eurostaaten Griechenland zum dritten Hilfspaket. Schließlich wollte man vermeiden, eine fehlgeschlagene Rettungspolitik einzugestehen. Deshalb solidarisches Verhalten allenthalben – allerdings mit einer Ausnahme: die hilfenehmenden Hellenen selbst. 86 Milliarden Euro sind auf den Weg gebracht, ohne daß eine realistische Prognose einer vollständigen Rückzahlung bestände.
Anders das Flüchtlingsthema; hier „Willkommenskultur“, dort Strafandrohung bei Grenzüberschreitung. Egal welcher Maßstab angelegt wird, die Verteilung der Flüchtlinge ist stark ungleichgewichtig. Vorläufiges Ergebnis: Lediglich auf einen Notfallplan, finanziert aus vorhandenen EU-Mitteln, könnte man sich gemäß dem Juncker-Vorschlag einigen.
Wie ist diese unterschiedliche Krisenreaktion zu erklären? Zunächst durch die Art des Gegenstandes. Während die Griechenlandhilfen weitgehend geldlich-abstrakt bleiben, sind die Lasten der Migranten real-konkret. Die Spürbarkeit der Kosten zeigt sich nicht nur in den rund 13.000 bis 15.000 Euro pro Flüchtling im Jahr. Insgesamt wird Deutschland in diesem Jahr etwa zehn Milliarden Euro aufzuwenden haben. Dieses Geld wird sichtbar für andere Leistungen fehlen. Zudem verändern Ersteinrichtungen das Stadtteilbild, Turnhallen werden belegt, Einwandererkinder stellen eine besondere Herausforderung für den Schulunterricht dar. Die Konkurrenz am Arbeitsplatz trifft mittelfristig vorrangig die heimischen Unqualifizierten.
Dann gibt es den Aspekt einer zeitlichen Kostenverlagerung. Die erste Rate für das erste Hilfspaket muß Griechenland erst 2020 leisten, die Tilgung für das zweite beginnt 2023. Die Zahlungen enden 2041 beziehungsweise 2057. Diese Lasten werden bei subventionierten Konditionen und Inflation zu Lasten der Gläubigerstaaten vergemeinschaftet. Demgegenüber läßt die Thematik der Flüchtlinge keine zeitliche Kostenverschiebung zu. Grenzschließungen scheinen für eini-ge Staaten die kostengünstig-einfachere Lösung zu sein. Das Problem läßt sich im Gegensatz zur Griechenlandkrise fern der EU halten.
Einen dritten Unterschied markiert die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Wäh-rend der Verteilungsschlüssel zur Griechenlandhilfe durch den Rettungsfonds unverhandelbar ist, bleibt die EU-weite Kostenverteilung bei den Hilfen für Flüchtlinge völlig offen und national beeinflußbar. Schließlich verbessert die Schaffung von Tatsachen die eigene Position, sei es durch Grenzschließungen oder durch Transitgewährung.
Außerdem trennen beide Fälle die anfallenden Kosten und Nutzen. Hilfskredite beruhen auf einem Programmvertrag mit Spar- und Reformauflagen zwischen dem Krisenstaat und den übrigen Eurostaaten. Mit Hilfe dieser Bindung sollen der Programmstaat haushaltsmäßig und ökonomisch wieder gesunden und die Eurozone stabilisiert werden – eine klassische „Win-Win-Situation“. Dagegen hat die humanitäre Aufnahme von Asylbewerbern den Charakter eines einseitigen Geschäfts, einer Wohltat, bei der die eine Seite ausschließlich Nutzen, die andere zumindest kurzfristig ausschließlich Kosten hat – eine eher mißliche „Win-Lose-Situation“.
Gemeinsam ist beiden Krisen der offenkundige Rechtsbruch gemäß dem vermeintlichen Grundsatz „Not kennt kein Gebot“. Die ersten Euro-Rettungshilfen fanden im rechtsleeren Raum statt, verstießen gegen das finanzielle Beistandsverbot (Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, kurz AEUV) und wurden erst nachträglich durch einen neu eingefügten Notfall-Stabilitätsmechanismus (Artikel 136) legalisiert.

Gemeinsam ist der Euro- wie der Flüchtlings-krise der offenkundige Rechtsbruch.

Nach ähnlichem Muster verstoßen die EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage gegen geltendes Recht. Mit Artikel 78 erkennen die Mitgliedstaaten indirekt die Genfer Flüchtlingskonvention an. Hiernach wird Straffreiheit bei illegaler Einreise gewährt, sofern der Flüchtling sich umgehend bei den Behörden meldet. Zugleich besteht ein Schutz vor Ausweisung. Ganz offensichtlich verstößt Ungarn gegen diese Rechtsgrundsätze. Schließlich stellen die Flüchtlingszüge nach Österreich, Deutschland und Dänemark sowie der ungehinderte Transit durch Italien einen Verstoß gegen das Dublin-III-Abkommen dar. Hiernach ist der erste Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig, über den die EU betreten wurde. Den Rechtsbruch ergänzend läßt Deutschland politisches Asyl gemäß Grundgesetzartikel 16a zu, obgleich hiernach ausgeschlossen ist, „wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften einreist“.
Eine Abkehr vom regelgebundenen Handeln bedarf der besonderen Rechtfertigung einer nicht abwendbaren Notlage. Die Gefährdung der Stabilität der Eurozone sowie die aktuelle humanitäre Krise mögen als Begründungen dienen. Allerdings sind mehrere Grundsätze bei einer Abkehr vom rechtssicheren Normalfall zu beachten: erstens muß sie die Ausnahme bleiben; zweitens muß der eingeschlagene Weg zielführend, angemessen und verhältnismäßig sein; schließlich sollte im Rahmen der EU eine konsensuale Abstimmung und ein koordiniertes Vorgehen erfolgen. Dies ist aktuell nicht gegeben.
Die humanitäre Nothilfe mag dies rechtfertigen – eine europäische Werte- und Rechtsgemeinschaft sieht jedoch anders aus.

Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.