© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

„Wir haben die Kontrolle verloren“
Asylkrise: Politik und Behörden reagieren zunehmend kopflos auf den stetigen Zustrom von Einwanderern
Marcus Schmidt

Die deutschen Botschaften im Nahen Osten, aber auch in Afghanistan und Pakistan haben alle Hände voll zu tun. Die Diplomaten versuchen, alle Gerüchte und Falschmeldungen wieder einzufangen, die den Strom von Einwanderern nach Deutschland stetig anwachsen lassen. Die Bundesrepublik habe ihre Tore weit aufgemacht, behaupten nicht nur die, die mit den Flüchtlingsströmen gut verdienen. Von Schiffen etwa ist die Rede, die in Tripolis und Beirut bereitstünden und mit denen die deutsche Regierung alle abholen würde, die nach Deutschland auswandern wollten, berichtet das Auswärtige Amt. Die deutsche Aufnahmebereitschaft habe es sogar als Spitzenmeldung in die afghanischen Fernsehnachrichten geschafft.
Über die sozialen Netzwerke im Internet und durch direkte Gespräche mit Journalisten in den betreffenden Ländern versucht das Auswärtige Amt daher, die Öffentlichkeit dort über die Realität in Deutschland aufzuklären. Am Dienstag machten sich eigens deutsche Diplomaten von Beirut nach Libyen auf, um das Gerücht von den wartenden Schiffen zu entkräften. „Das heißt nicht, daß wir sagen, in Deutschland sei es nicht möglich, Asyl zu erhalten, aber es gibt bestimmte Dinge, die dort berichtet werden, die einfach nicht stimmen und die richtiggestellt werden müssen“, sagte die stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes, Sawsan Chebli.

„Der syrische Arzt ist
nicht der Normalfall“

 Die hektischen Aktivitäten der deutschen Auslandsvertretungen zeigen, daß auch nach dem politischen Erdbeben vom Sonntag, als Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) überraschend die Wiedereinführung von Grenzkontrollen verkündete, die Asylkrise nichts von ihrer Dramatik verloren hat. Und mehr noch als die von kriminellen Schlepperbanden gestreuten Gerüchten macht den Verantwortlichen immer deutlicher der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu schaffen, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze. Nicht nur in der Union wird diese Aussage als schwerer Fehler bezeichnet. Es sei vielleicht sogar der schwerste in Merkels zehnjähriger Kanzlerschaft, heißt es.
Unklar blieb Anfang der Woche, welche Wirkung die Grenzkontrollen auf den Zustrom von Asylbewerbern haben. Während einige Medien Bundespolizisten mit der Aussage zitierten, aufgegriffene Flüchtlinge würden nach der erkennungsdienstlichen Behandlung auch weiterhin in deutsche Aufnahmeeinrichtungen gebracht, gab es andererseits Berichte über Einwanderer, die nach Österreich zurückgeschickt wurden. Zumindest die zeitweilige Einstellung des Zugverkehrs scheint eine Entlastung gebracht zu haben. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sprach am Dienstag davon, daß aufgrund der Grenzkontrollen Anfang der Woche weniger Asylbewerber in die Hauptstadt gekommen seien, als erwartet.
Vor der Entscheidung am Sonntag war der Widerstand gegen Merkels Asylpolitik spürbar gewachsen. Vor allem aus der CSU hagelte es Kritk. „Wir haben die Kontrolle verloren“, warnte der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Ende vergangener Woche in der Passauer Neuen Presse. Und in der Unions-Fraktion wächst mit jeder weiteren Alarmmeldung aus den Wahlkreisen die Nervosität. „Wir müssen endlich durchsetzen, daß Asylbewerber ohne Anspruch und Schutzbedarf gar nicht erst nach Deutschland kommen beziehungsweise nach erfolgter Ablehnung des Asylantrages abgeschoben werden“, forderte etwa der hessische CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch. Und sein baden-würtembergischer Kollege Thomas Bareiß warnte: „Einen weiteren Zustrom in diesem Umfang wird unsere Gesellschaft nicht aushalten. Die geweckten Hoffnungen, daß wir zum Beispiel mit den Flüchtlingen unseren anstehenden Fachkräftebedarf decken können, werden sich doch niemals erfüllen.“ Die „Grenzen der Flüchtlingsaufnahme“ müßten klar benannt werden. Der Berliner CDU-Abgeordnete Philipp Lengsfeld fordert gleich eine Änderung des Asylrechts. „Kanzlerin Merkel sagt: Deutsches Asylrecht kennt keine Obergrenze. Richtig: Genau deshalb müssen wir es jetzt ändern. Schnell“, schrieb er bei Twitter.
Auch in der Bundesregierung hat sich der Ton verändert. So wies Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in der vergangenen Woche nüchtern auf die Konsequenzen der Masseneinwanderung hin.Nachdem sie die Öffentlichkeit bereits darauf eingestellt hatte, daß die Zahl der Hartz-IV-Empfänger im kommenden Jahr nach Berechnungen ihres Ministerium bis zu 460.000 Personen steigen könnte (JF 38/15), deutete sie in der vergangenen Woche im Bundestag auch einen flüchtlingsbedingten Anstieg der Arbeitslosenzahlen an. „Nicht alle, die da kommen, sind hochqualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall“, sagte Nahles.
Gleichzeitig wird in Berlin mittlerweile davor gewarnt, die derzeit nach Deutschland kommenden Asylbewerber alle pauschal als Einwanderer anzusehen und entsprechend zu verplanen. Vor allem viele Flüchtlinge aus Syrien, so ist aus den Erstaufnahmeeinrichtungen zu hören, suchten zuallererst Schutz und planten häufig, in ihre Heimat zurückzukehren, sobald der Bürgerkrieg zu Ende sei. Diese Rückkehrbereitschaft gelte es auch im Interesse des zerstörten Landes nach Möglichkeit zu erhalten, geben Kritiker zu bedenken. Mit Kopfschütteln wurden in der Hauptstadt dagegen die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zur Kenntnis genommen. Die Pläne aus Brüssel sehen vor, 120.000 Einwanderer aus Griechenland, Ungarn und Italien in andere EU-Staaten umzusiedeln. Deutschland soll hiervon 31.443 Flüchtlinge aufnehmen – zusätzlich zu den Tausenden, die derzeit täglich in das Land kommen. SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich denn auch wenig begeistert. „Wir kriegen 120.000 pro Monat“, gab er im ZDF zu bedenken.
In der EU-Kommisson wissen die Verantwortlichen, daß sich die Pläne angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen äußerst bescheiden ausnehmen. Doch diese Vorschläge seien das Maximum dessen, was derzeit überhaupt umsetzbar sei, heißt es aus Brüssel. Hätte die Kommission gar keinen Plan vorgelegt, wäre die Kritik noch lauter ausgefallen. Daß selbst diese Pläne auf erheblichen Widerstand vor allem der östlichen EU-Mitglieder stoßen, zeigte sich am Montag auf dem Sondertreffen der europäischen Innenminister in Brüssel. „Diese Verhandlungen glichen einer Verweigerungshaltung vieler EU-Mitgliedsländer“, kommentierte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD), die ergebnislosen Gespräche.
Eines ist den Handelnden in Berlin längst klar. Selbst wenn der Flüchtlingsstrom wieder abebben sollte: die, die jetzt da sind, werden auf absehbare Zeit auch bleiben. So konnten Bund und Länder im vergangenen Jahr lediglich 13.574 Ausländer, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, zur freiwilligen Rückkehr in die Heimatländer beziehungsweise zur Ausreise bewegen. Auf ähnlich niedrigem Niveau bewegte sich 2014 mit 10.884 Fällen die Zahl der Abschiebungen. In diesem Jahr wurden bis Juli zwar bereits 9.915 abgelehnte Asylbewerber abgeschoben, angesichts des fortdauernden Zuzuges und der nach wie vor geringen Anerkennunsquote sind das dennoch äußerst bescheidene Zahlen.  „Wir sehen da noch ein weiteres Optimierungspotential“, sagte denn auch der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Tobias Plate.
Nicht erst seitdem Gabriel am Montag erstmals von möglicherweise einer Million Asylbewerber für das laufende Jahr gesprochen hat, wachsen die Sorgen von Bund, Ländern und Kommunen, ausreichend Unterkünfte bereitstellen zu können. Mittlerweile hat überall wieder die Schule begonnen, viele als Notunterkünfte genutzte Turnhallen müssen eigentlich wieder geräumt werden. „Sporthallen zu beschlagnahmen, ist vielleicht unumgänglich. Trotzdem: Hamburg schont Sporthallen – das ist weitsichtig“, gab der frühere Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky in der Bild zu bedenken. Brandenburg neige dagegen zur Hotelunterbringung – das sei unklug, weil Neid-Gefahr bestünde. „Leere Gebäude gibt’s genug. Also: Beschlagnahmen und einrichten“, forderte Buschskowsky. Ein Weg, den die Behörden offenbar immer häufiger wählen. In Berlin sind nach Informationen der JUNGEN FREIHEIT bereits in drei Fällen Immobilien privater Eigentümer beschlagnahmt worden.

Asylbewerber
verschwinden spurlos

Unterdessen wächst die Sorge um die innere Sicherheit. In Berlin wird von polizeifreien Zonen in der Hauptstadt berichtet, da die Polizei mit der Registrierung von Asylbewerbern ausgelastet sei. Ein Beamter berichtete der Berliner Morgenpost, daß die Polizei in einigen Nächten so viele Flüchtlinge zur Registrierung nach Tempelhof bringen mußte, „daß kein einziger Funkwagen für den Streifendienst mehr verfügbar war“.
Dennoch macht die Registrierung der neuangekommenen Asylbewerber den Behörden offenbar immer größere Schwierigkeiten. Sie sehen sich zudem mit dem Phänomen konfrontiert, daß Einwanderer auf dem Transport oder aus den Unterkünften verschwinden. So kamen am Dienstag von den für Berlin angekündigten über 520 Asylsuchenden nach Angaben der Bundespolizei lediglich 340 in der Hauptstadt an. Der Sprecher der Bundespolizei, Jens Schobranski, sagte dem RBB, in dem Zug, der die Einwanderer nach Berlin bringen sollte, sei in der Region um Leipzig, Dessau und Delitzsch mehrfach die Notbremse gezogen worden. Bereits in der vergangenen Woche waren in Dresden 200 Flüchtlinge, die in der Kaserne der Offizierschule des Heeres untergebracht waren, spurlos verschwunden. Sie waren noch nicht registriert worden.  „Ihr Ziel und jetziger Aufenthalt sind unbekannt“, sagte ein Sprecher des sächsischen Innenministeriums.

Bild: Von der Polizei am Montag in Freilassing aufgegriffene syrische Flüchtlinge: Notbremse gezogen