© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Sorge um die Stabilität
Die arabische Welt und die Syrienflüchtlinge: Der Druck auf die Golfmonarchien und Saudi-Arabien, mehr Glaubensbrüder aufzunehmen, wächst / Doch diese stellen sich taub und verweisen auf mögliche Probleme
Marc Zoellner

Ganz in Weiß ruht sie auf dem blanken Felsen der weiten, von schroffen Hügeln umgebenen Talsenke des Arafat, nur unweit der Stadt Mekka, dem kulturellen Zentrum des Islam: Mina. Jene Siedlung, zu welcher alljährlich Millionen gläubige Muslime strömen, um während ihrer Pilgerfahrt von der al-Masdschid al-Haram, der Heiligen Moschee, zum Berg Arafat in einem der Zelte ein wenig zu rasten.
Mina hat viele dieser Zelte. Um exakt zu sein, sind es knapp über hunderttausend Stück. Sie sind klimatisiert, besitzen elektrische Anschlüsse, Internet, eine feuerfeste Teflonbeschichtung sowie Zugang zu Hunderten zentral gelegenen Küchen- und Sanitäreinrichtungen. Über zwanzig Quadratkilometer Fläche beansprucht Mina mittlerweile für sich und bietet Platz für bis zu drei Millionen Menschen auf einen Schlag.
Tatsächlich wird Mina auch regelmäßig genutzt: nämlich genau fünf Tage lang, zum Hadsch, dem Pilgerfest des Islam und eine der fünf tragenden Säulen dieser Religion. Die restlichen 360 Tage des Jahres liegt Mina allerdings verwaist und verlassen in der Wüste. Dann findet sich kaum noch ein Mensch in der größten und mit Sicherheit auch komfortabelsten Zeltstadt der Erde.

Bei der Betrachtung der Stadt Mina scheint verwunderlich, daß der neue Vorschlag, diese hunderttausend Zelte nicht nur für die Pilger des Hadsch, sondern auch für das Gros der in Jordanien und dem Irak lebenden syrischen Flüchtlinge zu nutzen, nicht aus Saudi-Arabien selbst, sondern erst aus Europa kommen muß. Immerhin zählt die Europäische Union seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im April 2011 allein aus der Levante über 350.000 Anträge auf Asyl. Bilder von auf Autobahnen marschierenden Menschenkolonnen, von durchbrochenen Grenzen, von an deutschen Hauptbahnhöfen freudig empfangenen Sonderzügen auf der einen, an der Mittelmeergrenze ertrunkenen Flüchtlingskindern auf der anderen Seite vereinnahmen derzeit die Schlagzeilen.

Hingegen Saudi-Arabien: Zwar teilt sich die Petromonarchie mit den Bürgerkriegsländern Irak und Jemen gleich zwei lange Grenzen. Für 2014 verzeichnete Riad jedoch gerade einmal 100 Anträge auf Asyl in seinen Botschaften und Behörden – bei gleichzeitig 391 ursprünglich aus Saudi-Arabien stammenden politischen Flüchtlingen. Für dieses Jahr sieht die Bilanz des Golfstaats sogar noch düsterer aus: Nicht ein einziges Angebot zur dauerhaften Aufnahme syrischer Flüchtlinge, belegt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrem Septemberbericht, sei bis zum Herbst 2015 von Riad unterbreitet worden. Gleiches gelte ebenso für die Vereinigten Arabischen Emirate, für Bahrain, Katar und Kuwait.Wie ungleich die Last der Flüchtlinge verteilt ist, beweisen die syrischen Nachbarrepubliken. So hat allein die Türkei nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) bislang über 1,9 Millionen syrischen Staatsangehörigen seine Grenzen geöffnet. Auch im kleinen, kaum über vier Millionen Einwohner zählenden Libanon finden derzeit neben rund 500.000 vertriebenen Palästinensern weit über eine Million Syrer Unterschlupf. Knapp 630.000 Syrer leben dieser Tage in jordanischen Zeltstädten, eine weitere Viertelmillion im Irak und knapp 130.000 Bürgerkriegsflüchtlinge im dichtbesiedelten Niltal Ägyptens.

Trotz alledem dürfte der Umstand überraschen, daß die restriktive Einwanderungspolitik der Golfstaaten nicht nur in Deutschland, sondern gerade in den arabischen Kernstaaten selbst auf Unverständnis bis hin zu Empörung trifft. Insbesondere in den sozialen Medien macht sich Unmut breit.

Digitaler Protest gegen Riad aus dem arabischen Raum

Unter dem Motto „Die Aufnahme von Flüchtlingen ist die Forderung des Volkes“ verbreiteten insbesondere saudische Bürger Zeichnungen, Karikaturen, Manifeste und Plakate gegen die Politik ihrer Regierung. Zum Stichtag des neunten September zählte der Onlinedienst Twitter bereits 242.000 dieser digitalen Proteste aus dem arabischen Raum. Gut gemeinte Gesten, die im streng autoritär geführten Saudi-Arabien leider auch nur solche zu bleiben drohen.„Unseren Ländern mangelt es an tatsächlich vorhandenen institutionalisierten Wegen für die Menschen, um ihre Forderungen die Befehlskette auch hinaufzutragen“, erklärte der in Riad lebende palästinensische Bürgerrechtsaktivist Iyad El-Baghdadi, der aufgrund seiner tragenden Rolle im Arabischen Frühling zu den politischen Bekanntheiten des Nahen Ostens zählt, kürzlich dem Nachrichtenmagazin Quartz.com. „Sie können ja nicht einfach ihren Abgeordneten anrufen. Sie können auch nicht auf die Straße gehen und demonstrieren und aus Sicherheitsgründen auch kein Geld sammeln. Alles, was sie tun können, ist also schlicht, einen Hashtag in Umlauf zu bringen.“

Twitter-Nachrichten, die allerdings eine eindeutige Botschaft kolportieren. „Ich bin so voll Scham vor mir selbst, beschämt über uns Araber“, twittert beispielsweise die Libyerin Anssam Gibani. „Ruhe in Frieden, Menschlichkeit.“ Ihr selbstgemaltes Bild zeigt ein trauerndes Meer und davor, reglos am Strand liegend, Aylan Kurdi, den kleinen syrischen Jungen, dessen Tod vor wenigen Tagen die Weltöffentlichkeit schockierte. Diese Geschichte bietet auch anderen Aktivisten überaus häufig Anlaß, sich im Netz lautstark zu äußern. Aylan Kurdi ist derzeit unübersehbar das prägende Motiv im arabischen sozialen Netzwerk: sein lebloser Körper, der von den vor Reichtum strotzenden Scheichs der Golfstaaten am Strand begraben wird. Kurdi tot im Konferenzsaal der Arabischen Liga. Kurdi, dessen Foto man auf Facebook rasch wegscrollt. „Die Araber reagieren endlich“, heißt es als zynische Bildunterschrift unter letzterer Karikatur.

„Die Arabische Liga ist ein Mythos“, empört sich auch der Beiruter Journalist und Blogger Mahmoud Ramsey. Ihr propagierter Zusammenhalt, ihre Normen und Werte – reine Staffage. Auf einer weiteren Zeichnung schreit ein Araber das mißtrauisch äugende Europa an, vor dessen Tür eine zerlumpte Mutter mit ihrem Kind um Aufnahme bittet. „Warum laßt ihr sie nicht hinein?“ fragt er. „Ihr habt keinen Anstand!“ Doch im Gegensatz zu Europa ist die dortige Tür des Arabers mit Stacheldraht umzäunt; eine Anspielung auf die festungsgleiche Grenze zu seinem Nachbarn Jemen, welche sich Riad in den vergangenen Jahren Unsummen an Petrodollar hat kosten lassen (JF 38/13).

Zweifelsohne wissen sich die Golfmonarchien auch mit geradezu einleuchtend klingenden Argumenten gegen die Vielzahl an Anschuldigungen aus Europa, von ihren eigenen Bürgern sowie aus den Krisengebieten des Nahen Ostens zu wehren: Nirgends sonst hätte man sich weltweit derart offen für Einwanderer gezeigt wie auf der Arabischen Halbinsel. So unterstrich der eher prosaudische Sender al-Arabiya Mitte vergangener Woche, daß Saudi-Arabien seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011eine halbe Million Flüchtlinge aufgenommen habe. Unterstützend verwies der ehemalige Generalmanager des al Arabiya News Channel Abdulrahman al-Rashed, darauf, daß fast 70 Prozent der Bevölkerung der Vereinigten Arabischen Emirate aus dem Ausland stammen. Auch Katar zähle einen Migrantenanteil von 80 Prozent, Kuwait sogar 85 Prozent und in Saudi-Arabien sei immerhin noch jeder dritte Einwohner nicht im Land geboren.

Doch die Zuwanderung aus Krisengebieten bereitet den Machthabern von Dubai bis Riad Sorge. Die Angst vor ausländischem Terrorismus, vor ethnischen und konfessionellen Spannungen überwiegt noch immer bei einem Gros der Autochthonen dem Bedürfnis, ihren syrischen, irakischen und jemenitischen Glaubensbrüdern Hilfe zu leisten. „Die Golfstaaten sind höchst besorgt über mögliche Bedrohungen ihrer inneren Sicherheit durch syrische Flüchtlinge“, bestätigte vergangene Woche auch der Nahostexperte Michael Stephens vom Londoner Royal United Services Institute der Nachrichtenagentur Bloomberg.Überdies, erklärte Nabil Othman, der Nahostrepräsentant des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, kürzlich Bloomberg gegenüber, lebten bereits über eine halbe Million Syrer dauerhaft in Saudi-Arabien. Das Land sei auch kein Unterzeichner der Flüchtlingskonvention von 1951; ebensowenig wie die anderen Golfstaaten mit Ausnahme des Jemen. Ausländer, die in Saudi-Arabien wohnen oder arbeiten wollen, bräuchten lediglich ein Visum bei einer zuständigen Botschaft beantragen. Doch die Statistik der letzten Jahre beweist, daß für Syrer und andere Bürgerkriegsflüchtlinge die Chancen auf eine legale Einwanderung bedenklich schlecht stehen. Ähnliches gilt für den Jemen: Von den über 130.000 in den letzten vier Monaten Geflüchteten fand nur knapp jeder vierte Aufnahme in den Nachbarländern Oman und Saudi-Arabien. Weit über 100.000 Jemeniten mußten hingegen die gefährliche Überfahrt über das Rote Meer wagen, um sich vor dem Krieg in ihrem Land – dem Krieg der reichen Golfstaaten gegen die jemenitischen Houti-Rebellen – nach Eritrea, Somalia und Dschibuti zu retten.

Kuwait will 120.000 Syrern Aufenthalt garantieren

Mit einem Etat von gut zwei Milliarden Dirham, umgerechnet knapp 480 Millionen Euro, wollen nun zumindest die Vereinigten Arabischen Emirate den befürchteten Flüchtlingsstrom an Syrern auf die arabische Halbinsel stoppen. Die Errichtung neuer Flüchtlingscamps in Jordanien sowie im nördlichen Irak sei „im eigenen Langzeitinteresse der Flüchtlinge“, erklärte die Regierung in Dubai. Sie seien dadurch „ihrem Zuhause näher und können leichter heimkehren, wenn der Konflikt endet“.Begründungen, die der renommierte Dubaier Journalist Sultan Al Qassemi für hanebüchen hält. „Die syrischen Flüchtlinge wollen doch nicht ihr Leben lang, Generation für Generation, in umgebauten Zeltstädten verbringen, so wie es die Palästinenser schon tun“, klagte Al Qassemi vergangene Woche in der International Business Times. „Wären die Golfstaaten in einen blutigen Konflikt verstrickt, wollten wir, daß man Zelte für uns in der Wüste baut, oder wollten wir nicht auch lieber ein normales Leben in den Städten führen?“

Aufgrund der Proteste seiner Bürger will nun zumindest das Emirat Kuwait den syrischen Flüchtlingen einen kleinen Lichtblick schenken. Die rund 120.000 Syrer, welche zum Großteil bereits vor Beginn des Bürgerkriegs am Golf lebten und sich mit dem Auslaufen ihrer Visa in einer rechtlichen Grauzone gestrandet fanden, sollen ab Mitte dieses Monats von den Behörden unbürokratisch dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt bekommen. Von dieser Ausnahmeregelung nicht betroffen sind jedoch weiterhin die Millionen syrischer Flüchtlinge, die derzeit in den Zeltstädten der Türkei, des Libanon sowie Jordaniens auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien hoffen. Für sie gelten weiterhin anstelle rascher Asylgesuche die strengen Visavorschriften des Emirats. Denn wie beinahe alle anderen Golfstaaten weigerte sich auch Kuwait bislang vehement, die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 zu unterzeichnen.