© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

„Guter Dienst an Deutschland“
Asylkrise: Die Migranten kommen, die Polizisten fluchen, der Minister lobt / Momentaufnahmen von der deutsch-österreichischen Grenze
Billy Six

Es wird ernst, einen Moment lang droht an Deutschlands Südgrenze die Eskalation. Hunderte Migranten warten an der Saalachbrücke von Salzburg ins bayerische Freilassing. Die Bundespolizei, seit dem 13. September wieder mit Grenzkontrollen zu Österreich beauftragt, hat den Übergang gesperrt – und ist sogar auf die Seite des Nachbarlands vorgerückt.

„Frau Merkel hat gerufen, soll sie sich mal kümmern“

Dutzende Mannschaftswagen haben Position bezogen, auch berittene Polizei und Hubschrauber sind im Einsatz. Für vier Stunden kommt der abendliche Autoverkehr zum Erliegen. „Sie sind alle in Deutschland willkommen“, so einer der Beamten an vorderster Front unter merklicher Anspannung – „aber bitte räumen Sie die Straße“. Die Menge raunt; niemand scheint zu verstehen, worum es geht. Zwischen mehreren Männern kommt es zu Keilereien und wüsten Beschimpfungen. An anderer Stelle reißt ein Mann einen Säugling an sich, um ihn der Polizei entgegenzuhalten – andere mutmaßliche Familienmitglieder laufen hinterher, schreien und nehmen das Kind wieder zurück.Überregionale Medien werden dies nicht berichten. Das Oberbayerische Volksblatt spricht immerhin von „Brennpunkt“ und „Ausnahmezustand“; der russische Staatssender RT Deutsch ist per Livestream dabei. 

Ordnung in die orientalische Menschenmenge bringt schließlich Imam Usam Alimi von der albanisch-islamischen Gemeinde in Salzburg. Über Megaphon verspricht er „bei Allah“ auf arabisch, daß jeder nach Deutschland einreisen könne – allerdings nur geordnet. Andere Helfer übersetzen lautstark ins persische Farsi und pakistanisches Urdu. Erst jetzt beruhigen sich alle. Die Polizei gewährt Familien den Vorrang und zieht sie teilweise von hinten aus der Menge – unter lautstarkem Protest mancher männlicher Vordrängler. Imam Alimi, seit vier Jahren in Österreich, sagt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Gott sei Dank, Polizei ist hier und alles in Ordnung.“ 

Nicht in Ordnung ist jedoch das Vorgehen des österreichischen Staates, der nach EU-Recht gezwungen wäre, die Transitreisenden entweder als illegale Einwanderer festzunehmen oder als Asylbewerber zu registrieren. „Frau Merkel hat sie gerufen“, grinst ein Beamter am Salzburger Hauptbahnhof, „jetzt soll sie sich mal kümmern.“ Gute 10.000 Migranten seien hier bis vorvergangene Woche täglich umgestiegen, teilt das von der Stadtverwaltung aus aktuellem Anlaß eingerichtete Medienzentrum mit. Am ersten Tag der deutschen Grenzkontrollen seien noch 3.000 bis 4.500 Zuwanderer eingetroffen – nur 33 von ihnen hätten einen Asylantrag gestellt. In den Folgetagen seien maximal 2.500 täglich eingetroffen, so Pressesprecher Johannes Greifeneder gegenüber der JF. 

Der Sperrzaun Ungarns an der serbischen Grenze sowie die neuen Kontrollen der Österreicher an ihrer Ostgrenze, verbunden mit gestrichenen Zügen aus Budapest, haben offenbar für eine Atempause gesorgt. Der Zugverkehr von Salzburg aus nach Deutschland ist bis auf weiteres eingestellt – viele laufen die letzten Kilometer zu Fuß, andere kommen mit Bus oder Taxi zur Grenze.  

Die Tiefgarage unter dem Salzburger Hauptbahnhof bietet Platz für 600 bis 800 Menschen. Tatsächlich nutzen viele der irregulären Einwanderer die Option dort auf Feldbetten zu übernachten sowie kostenfrei verköstigt zu werden und verschnaufen zu können. Eine ethnisch-religiöse Trennung finde nicht statt, so ein Mitarbeiter des städtischen Pressesprechers bei einer Führung. Auch Gewalt sei kein Thema. Die Anwesenheit von 16 bis 20 Soldaten des Bundesheeres hänge mit der Bewältigung logistischer Aufgaben zusammen.  

Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) kommt vorbeigeschlendert, grüßt alle Umstehenden freundlich per Handschlag. Ein Krisengespräch, Normalfall. SPÖ-Bürgermeister Heinz Schaden klagt jedoch in den lokalen Salzburger Nachrichten über persönliche Beschimpfungen während seiner Bahnhofsbesuche: „Da ist man als Politiker nicht mehr wahnsinnig beliebt. Die breite Mehrheit der Österreicher glaubt, daß diese Flüchtlinge schädlich sind.“ 

Enttäuschte brechen aus dem Aufnahmelager aus

Volkes Stimme scheint sich jedoch eher gegen Politik und Medien zu richten. Imbißbesuch in einer örtlichen  Tankstelle. „Was das Volk wirklich denkt, siehst du im Fernsehen nicht“, so einer der Gäste, ein Mann mittleren Alters, der besorgt an seiner Zigarette zieht. „Sie zeigen nur die, die da jubeln und helfen – alle anderen sind’s dann gleich a Nazi, a Rechter.“ Die beiden Servicekräfte nicken, ebenso drei weitere Kunden. Auf einem Mobilgerät schauen sie zwei Versionen eines Filmstreifens aus Ungarn: In einem kleinen Ausschnitt ist zu sehen, wie eine syrische Frau mit ihrem Säugling auf einer Bahnschiene liegt – umstellt von ungarischen Polizisten. 

Ein angeblicher Beweis für die „menschenfeindliche“ Politik von Premier Orbán, fotografiert von zahlreichen Journalisten. Im vollständigen Video ist zu erkennen, wie sie von ihrem Ehemann auf die Gleise geschupst wird. „Alles reine Show, Verarschung“, sind sich die Österreicher einig. „Die Kinder können nichts dafür, das tut mir im Herzen weh“, wirft eine blonde Frau ein. Jedoch: „Es hört ja nicht auf, es kommen immer mehr.“ Vor der Kamera mag niemand von ihnen Stellung beziehen; es herrscht Angst vor den Folgen. Gleichzeitig sehen Umfragen die asylkritische FPÖ mit 33 Prozent auf Platz eins unter den österreichischen Parteien. 

Anfang September hatte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) die ungarische Politik in die Nähe des Holocaust gerückt. Bezugnehmend auf einen Transport, der nicht zur Grenze, sondern in ein Auffanglager ging, hatte der österreichische Regierungschef geurteilt: „Flüchtlinge in Züge zu stecken in dem Glauben, sie würden ganz woandershin fahren, weckt Erinnerungen an die dunkelste Zeit unseres Kontinents.“ 

Nun hat sich ähnliches am Salzburger Hauptbahnhof zugetragen. Gestrandete Migranten schöpfen Hoffnung, als ein Übersetzer in weißem Hemd ihnen rät, schnell die Sachen zu packen, um auf Gleis vier einen Sonderzug nach München zu ergattern. Oben auf dem Bahnsteig sammelt die Polizei alle Ankommenden ein und geleitet sie zum Hinterausgang, wo bereits mehrere Busse warten. Ein anderer Migrantenhelfer bestätigt: „Die Polizei hat mir gesagt, daß die nach Deutschland fahren.“ 

Doch am Rande flüstert ein junger österreichischer Soldat, daß es in Wirklichkeit darum gehe, die Zuwanderer in eine Sammelunterkunft zu fahren. Tatsächlich handelt es sich um ein neues Notlager in einer alten Autobahnmeisterei von Salzburg-Liefering. Wie ein österreichischer Polizist im Getümmel an der Saalachbrücke gegenüber der JF bestätigt, sind viele der Andrängenden Enttäuschte, die aus dem Lager unmittelbar nach Ankunft „ausgebrochen“ seien. Auf Betten, Essen und Duschen hätten sie verzichtet. Die Autobahnmeisterei ist nur 2,5 Kilometer vom Grenzübergang entfernt – und damit näher als der sechs Kilometer weite Bahnhof. „Die haben alle Urlaub gebucht – und Europa sagt, macht, wie ihr wollt“, so der Beamte, der anscheinend als einziger Vertreter der österreichischen Staatsmacht den deutschen Hundertschaften beisteht. 

   Polizisten fühlen sich als machtlose Statisten 

Ein Beamter der Bundespolizei ist vom Verhalten der Kollegen aus dem Nachbarland enttäuscht. „Aber nicht, daß sie das jetzt aufzeichnen“, mahnt er die Journalisten. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der sich per Hubschrauber zum Besuch in die Bundespolizeiinspektion Rosenheim hat einfliegen lassen, vermeidet jede Form von Konfrontation. Er bedankt sich bei den „sehr kurzfristig alarmierten, unter hoher Belastung arbeitenden Bundespolizisten und zugleich auch ihren bayerischen Kollegen“.

Deutschland sei sehr gefordert, aber nicht überfordert. „Was hier getan wird, ist ein guter Dienst für Deutschland“, so der Minister, der den EU-Kommissar für Migration, Dimitris Avramopoulos, mitgebracht hat. 

Dieser lobt das „gute Modell“ der Deutschen, die „Solidarität und Offenheit gezeigt“ hätten. In Rosenheim findet statt, was nach dem Gesetz bereits in Griechenland, Ungarn oder Österreich hätte passieren sollen: die Registrierung der Ankömmlinge. 

Polizeisprecher Rainer Scharf erläutert dabei auch die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung: So sei mittels Fingerabdruck ein wegen Vergewaltigung gesuchter Nigerianer gefaßt worden. Durch die intensiven medizinischen Untersuchungen würden dazu regelmäßig gefährliche Krankheiten entdeckt: „Krätze und Tuberkulose sind die gängigsten Sachen“, so Scharf gegenüber der JF. Ein Schwarzafrikaner sitzt im Wartebereich der Registrierungsstelle, vollständig in weiße Schutzkleidung eingehüllt. Der hohe politische Besuch bleibt auf Abstand. 

„Die Grenzkontrollen sind keine Grenzschließung“, sagt de Maizière, „aber sie sorgen dafür, daß die Einreise geordnet stattfindet, daß wir wissen, wer kommt und daß wir eine ordnungsgemäße Verteilung durchführen können und daß wir insgesamt die Belastung besser ausgleichen.“ EU-Kommissar Avramopoulos vermittelt Hoffnung: „Ihr Ersuchen wird in Brüssel gehört. Was auch immer Sie brauchen, Sie werden es haben. Die Union ist da.“   

Abends im Lokal reden sich zwei Bundespolizisten den Frust von der Seele. Sie fühlen sich als machtlose Statisten, welche die Suppe der großen Politik auszulöffeln hätten; dazu „unzureichend vorbereitet“. In Wirklichkeit sei es bei der auf bayerischen Druck zustandegekommenen Entscheidung für die Grenzkontrollen darum gegangen, den reibungslosen Ablauf des Münchner Oktoberfests zu garantieren, mutmaßen sie. Die Überflutung des Münchner Hauptbahnhofs mit täglich Abertausenden Migranten sei als Gefahr betrachtet worden. Merkels Politik, „den illegalen Massen die Einreise zu gewähren“, betrachten sie als Verletzung des Amtseids. „Aber solange wir leben können, sagen wir nichts. Ansonsten kann man schnell seine Arbeit verlieren.“ 

Immerhin bestätigt sich auf einer Autofahrt von Kufstein nach Passau, daß die Kontrollen größtenteils reibungslos und zügig ablaufen – dank selektiver Schnellabfertigung einreisender Fahrzeuge und einem „Hinterland-Fahndungsgürtel“ der Landespolizei. Doch auch andernorts bestätigt ein Beamter unter vier Augen die kritische Haltung: „Die Migranten kommen mit falschen Vorstellungen. Ihre bereits eingereisten Freunde geben an, was sie Tolles erreicht hätten. Jetzt kommen die andern hinterher und stellen bald fest, daß dem nicht so ist.“       

Fotos: Busse am Salzburger Hauptbahnhof bringen die Einwanderer in ein Erstaufnahmelager (oben), Bundespolizisten kontrollieren einen Transporter an der Grenze bei  Freilassing: „Die Polizei hat gesagt, es geht nach Deutschland“; Bundesinnenminister de Maizière besucht mit EU-Kommissar Avramopoulos die Bundespolizei in Rosenheim (oben), provisorische Unterbringung in einer Tiefgarage am Salzburger Bahnhof:    „Was das Volk wirklich denkt, siehst du im Fernsehen nicht“