© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

„Christsein bedeutet Leiden“
Christentum in der Osttürkei: Der harte Kampf ums Überleben
Volker Keller

Die Rundreise beginnt in Antakya. Das ehemaligen Antiochia hat sich zur Stadt des Friedens erklärt und ist in der Türkei bekannt für die Verständigung der Religionsgemeinschaften und Völker. Die Stadt sollte unser Ausgangspunkt sein, um der Frage nachzugehen, wie das Land mit seiner christlichen Minderheit umgeht. Im „Haus Pax“ der katholischen Kirche begrüßt uns Ordensschwester Barbara Kallasch. Ihr Gästehaus liegt genau im „Dreieck Abrahams“ zwischen einer katholischen Kirche, einer Moschee und einer Synagoge. „Zu unseren Festen besuchen wir uns“, erzählt sie und beschreibt eine Nachbarschaft ohne Grenzen. 

Seit etwa 1.400 Jahren leben Muslime, Juden und Christen in der Türkei zusammen. Als muslimische Eroberer im siebten Jahrhundert nach Christus kamen, waren die Christen schon dort. Petrus hatte 600 Jahre zuvor eine Gemeinde gegründet und in der biblischen Apostelgeschichte heißt es, daß sich die Jesusanhänger erstmals in Antiochia Christen nannten. Barbara Kallasch faßt die frühe Geschichte zusammen: „In Jerusalem wurde das Christentum empfangen, in Antiochia geboren, und in Rom wuchs es auf.“ 

Die erste Kirche der Welt, die St.-Peters-Kirche, liegt auf einem Stadthügel. Sie ist eine unscheinbare Grotte, eine verborgene Höhle, die man nur zu Fuß erreichen kann. Ein in den Felsen geschlagener Fluchtweg veranschaulicht, daß die römische Macht über das „Neugeborene“ von Anfang an nicht glücklich war. Verhindern konnten sie das Großwerden nicht; Noch heute feiern Christen in der Kirche Gottesdienste. 

Zurück in der Altstadt Antakyas präsentiert der Pfarrer der syrisch-orthodoxen Kirche ein Originaldokument aus der Zeit osmanischer Herrschaft. Muslime hatten sich über Glockenläuten und christliche Prozessionen beim Sultan beschwert. Der Herrscher wies den Bürgermeister an, für die Gewährleistung der christlichen Gottesdienste zu sorgen. „Durch Toleranz sollte das multiethnische und multireligiöse Osmanische Reich zusammengehalten werden“, urteilt der Priester. So weit, so gut! Wie paßt dazu die Begegnung mit einem Ladeninhaber in der Stadt? Er schloß hinter uns die Tür und sprach von Schwierigkeiten: Manche Muslime würden nicht mehr bei Christen einkaufen. Anderswo im Lande, besonders im Osten, sei es allerdings schlimmer als in Antakya. Dorthin wollen wir.

„Du Armenier“ gilt als Schimpfwort 

Nächster Halt ist Vakifli – das letzte Dorf der Armenier in der Türkei. Noch ungefähr 60.000 christliche Armenier leben im Land, vor hundert Jahren – vor dem Völkermord des jungtürkischen Osmanischen Reiches – zählten sie noch 1,7 Millionen. Damals lebten sie in Anatolien, die Kurdenstadt Diyarbakir war eine Hochburg. Dort gibt es heute keine Armenier mehr. Die größte Gemeinde befindet sich in Istanbul, wo sich armenische Geschäftsleute türkische Decknamen zulegen– sonst würden manche Türken bei ihnen nicht einkaufen. 

150 zumeist ältere Menschen bilden die Gemeinde in Vakifli. Ihre Vorfahren hatten sich 1915 hier im Hügelland der Provinz Hatay 53 Tage lang verschanzt, als die Todeskommandos anrückten. Kollaboration mit dem russischen Feind und Separatismus wurde ihnen vorgeworfen. Die Franzosen retteten sie.

Die 110 Jahre alte kleine Mutter-Maria-Kirche mit Glockenturm und sichtbarem Kreuz ist von einem Zaun umstellt. Das Gebäude aus hellen Sandsteinquadern zeigt sich in bestem Zustand. Der Staat kommt für die Unterhaltung auf und unterstützt auch die Dorfbewohner. Etwas Geld verdienen die Bewohner durch Landwirtschaft und durch Likörverkauf. 

Beim Verkosten kommen wir ins Gespräch. Für türkische Nationalisten sei „Du Armenier!“ ein Schimpfwort, erfahren wir. Durch die AKP-Regierung von Tayyip Erdogan sei die politische Lage allerdings besser geworden. Liegenschaften, die unrechtmäßig enteignet wurden, würden zurückgegeben und es dürften wieder Gottesdienste gehalten werden. Alle zwei Wochen kommt ein Priester aus Antakya nach Vakifli. Wir hören heraus, daß es am besten ist für Armenier, sich unauffällig zu verhalten. 

Nur zu gut ist den Menschen noch der Mord am armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 in Erinnerung. Er hatte öffentlich von „Völkermord an den Armeniern“ gesprochen und sich damit Anklagen und Verurteilungen wegen  „Beleidigung des Türkentums“ zugezogen. Auch der Schriftsteller Orhan Pamuk handelte sich vor kurzem aus gleichem Grund eine Anklage ein – und wurde freigesprochen. 

Zum Abschluß kommen unsere Gastgeber auf Antakya zu sprechen. Einige singen dort im Chor der Zivilisationen mit, dem Christen, Muslime, Alewiten, Türken, Juden und Armenier angehören. Der Chor ist ihnen ein Vorbild für die ganze Türkei: So sollten überall Mehrheit und Minderheiten zueinander finden. 

Im orthodoxen Gottesdienst der Kirche St. Nikolaus in Iskenderun singt ein Chor stundenlang – ohne instrumentale Begleitung. Der Mensch soll Gott loben, nicht tote Materie aus Metall oder Holz. Die Kirche quillt über mit Ikonen von Christus, dem Weltenrichter, Maria, der Gottesmutter, Erzengeln, Heiligen, Aposteln, Propheten und Märtyrern. Ikonen sind nicht etwa tote Materie, Christus und die himmlischen Gestalten sind in den Bildern gegenwärtig, durch die Ikonen nehmen sie an der Liturgie teil, im Gottesdienst vereinigen sich die himmlische und die irdische Welt. 

Einer der Gemeindeleiter erklärt den orthodoxen Glauben, und unversehens verändert sich seine Stimmung von süß auf sauer. Er berichtet, daß nachts ein Sicherheitsdienst gebraucht wird und  neun Überwachungskameras – immer wieder komme es zu Brandbombenanschlägen auf orthodoxe Kirchen und Friedhöfe. Teile des eigenen Grundstückes sind für ein Parkhaus und Straßenbau ohne Entschädigung enteignet worden, Baugenehmigungen erhält die Gemeinde nur mit vielen Einschränkungen. Es gebe ja nicht mehr viele Christen in der Türkei, und die beiden Töchter des Priesters würden auch weggehen. Sie hätten beste Hochschulabschlüsse und bekämen trotzdem keine Anstellung – weil sie Christen seien, schimpft er.  Feste feiern die Christen in Iskenderun gerne zusammen mit den Alewiten, einer anderen Minderheit, nicht mit Muslimen. 

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) stellt fest, daß der fehlende Rechtsstatus als Körperschaft öffentlichen Rechts unsichere Besitzverhältnisse begründet. Nicht nur das: „Christen sind Bürger zweiter Klasse, bürokratischen Schikanen und körperlicher Bedrohung ausgesetzt.“ 

Nach mehreren Klagen vor internationalen Gerichten, bei denen die Kläger recht bekamen, bekundete die Regierung Erdogan erstmals 2011, daß enteignete Immobilien zurückgegeben oder Entschädigungen gezahlt werden sollen. Wir fragen den Gemeindeleiter, was er dazu sagt. Ihm fehlt der Glaube. Eine rechtliche Anerkennung bekomme man trotzdem nicht. Erdogan habe ja auch angekündigt, daß bald wieder orthodoxe Priester in der Türkei ausgebildet werden dürfen – wann denn endlich?

Die Begegnung wühlt auf. Der Tagesprotokollant schreibt: „Unser Gesprächspartner war sehr erregt, wir konnten unser Mitgefühl nicht unterdrücken.“ An der sechs Kilometer langen Meerespromenade von Iskenderun suchen wir Entspannung, eine leichte Brise kühlt uns ab. Wir sind angestrengt – und den Osten haben wir noch vor uns.

Der Weg zum berühmten Kloster Mor Gabriel in Südostanatolien ist weit. Wir passieren die kurdische Hochburg Diyarbakir. In Antakya trugen die wenigsten Frauen Kopftuch – hier tragen sie es alle. In Mesopotamien entstanden die frühesten Hochkulturen, die Sumerer erfanden mit als erste das Rad. In der mesopotamischen Stadt Sanliurfa scheinen Frauen ausgestorben zu sein: Herrenrunden vergnügen sich abends in den Cafés. Diese Region tickt offenbar konservativ – und explosiv. Polizeiwagen ähneln Panzerwagen – wir sind im Kurdengebiet unterwegs. 

Hohe Steinmauern umgeben Mor Gabriel, ein im vierten Jahrhundert gegründetes Kloster, eines der ältesten der Welt. In der Berglandschaft des Tur Abdin residiert Metropolit Mor Timotheos. Tee in Tulpengläsern läßt er anbieten und kommt gleich zur Sache. Wir erfahren, daß viel Zeit aufgewendet werden muß für Prozesse gegen den türkischen Staat, um sich gegen Enteignungen zu wehren. Machtlos ist der Bischof gegen das Verbot, Aramäisch zu sprechen: Die syrisch-orthodoxen Mönche und Priester sprechen die Sprache Jesu, die Verkehrssprache der damaligen Welt am Mittelmeer, aber es ist ihnen untersagt, Religionsunterricht auf aramäisch zu halten. Die Sprache soll sterben. Es stellt sich ein Déjàja-vu-Erlebnis ein: Die gleichen Schilderungen von Enteignungen und Diskriminierung wie in Iskenderun, die gleiche Verbitterung.

Der Metropolit berichtet dann von Morden an Christen in jüngster Zeit.  Er habe Angst. Vor ihm sei schon ausgespuckt worden – man habe ihm seine Verachtung zeigen wollen. „Christsein bedeutet Leiden“, resümierte der Mann mit weißem langem Bart. Der Bischof beklagt, daß vor allem nationalistische Politiker Druck auf Christen ausüben, um sie zur Auswanderung zu treiben. 

Kirchen als Gradmesser türkischer Toleranz

Im Anschluß beschreibt er seine Jesusnachfolge. Der Metropolit identifiziert sich mit dem Gekreuzigten. In ihrer Bedrohung und in ihrer Sorge um das Kloster stehen sie in Gemeinschaft mit ihrem Herrn. Er hört Jesu Ruf unmittelbar: „Nehmt mein Kreuz auf euch!“ Er wird es auf sich nehmen, komme, was wolle, und wird nicht weichen. 

Mor Timotheos steht nicht allein da gegen den türkischen Staat – das deutsche Parlament unterstützt ihn. 2012 haben alle Fraktionen zugesagt, sich für den Fortbestand des in seiner Existenz bedrohten Klosters einzusetzen. Zwar anerkennen die Parlamentarier das Bemühen der AKP-Regierung in Ankara um mehr Religionsfreiheit, erklären aber gerade den Umgang mit dem Kloster zum Gradmesser für die Ernsthaftigkeit toleranter Politik.

Vielleicht kann das Kloster geschützt werden, aber die Auswanderung der Christen dürfte sich fortsetzen. Anfang des 20. Jahrhunderts stellten sie noch 25 Prozent der Gesamtbevölkerung, heute sind sie geschrumpft auf 0,2 Prozent.

 Findet hier ein Kampf der Religionen statt, fragen wir nach unserer Rückkehr nach Antakya den Obermufti der südostanatolischen Provinz Hatay. Er streitet den Zusammenhang ab. Ethnische Probleme, nicht religiöse stünden im Vordergrund. Der Islam sei tolerant, wie man an Antakya sehe.