© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Debussy stand Pate
Klassik: Zur Erinnerung an den vor hundert Jahren in Galizien gefallenen Komponisten Rudi Stephan
Wiebke Dethlefs

Ein Kopfschuß beendete nahe dem galizischen Tarnopol am 29. September 1915 das Leben des wohl begabtesten deutschen Komponisten seiner Generation, Rudi Stephan. „Er war derjenige, der kommen sollte, er war es, auf den wir hofften (…) Er war derjenige, welcher berufen war, alles Tastende in der Modernen Musik zu einem großen künstlerischen Werk zu sammeln und ihr eine neue Richtung zu geben“, wie es einer seiner Freunde nach seinem Hinscheiden ausrief. Rudi Stephan fiel mit nur 28 Jahren, einer der vielen frühvoll-endeten Künstler wie beispielsweise die Maler August Macke oder Franz Marc, deren Tod im Ersten Weltkrieg der deutschen Kunst größte Verluste zufügte. 

Rudi Stephan kam am 29. Juli 1887 in Worms zur Welt. Früh begegnete ihm die musikalische Welt Richard Wagners – der Vater, ein Jurist, war Vorsitzender des lokalen Wagner-Vereins. Biographisch ist nur wenig aus seinem Leben bekannt. Da die verhältnismäßig kurze Studienzeit in Frankfurt am Main am Hochschen Konservatorium und München von 1906 bis 1908 ohne Abschluß blieb, darf man Rudi Stephan als musikalischen Autodidakten bezeichnen.

Künstlerisch war es sein Streben, den Moll-Dur-Dualismus zu überwinden, auch wollte er, daß seine Musik in ganz abstrakter Form „für sich und aus sich heraus“ wirken sollte. Für die für Stephans Stil typische funktionslose Harmonik, die sich gleichsam in der Suche nach einer irgendwie gearteten Tonalität oft auch modaler Wendungen bedient, stand Claude Debussy Pate. Dessen Werke hatte er in München während seines Studiums kennenlernen können. In gleichem Maße lehnte er sich (um das zweite Postulat seines künstlerischen Credos zu verwirklichen) an die „absolute“ Musik Max Regers an, dessen kunstvolle abstrakte Polyphonie neben der impressionistischen Komponente für Stephans Stil ebenso bestimmend ist – wobei Stephans Orchesterklang, das instrumentatorische Raffinement sich ganz plakativ bei Richard Strauss bedient, wie es insbesondere der Schluß der „Musik für Orchester“ zeigt. 

Seit 1908 entstanden seine wenigen Schöpfungen: zunächst die etwa zwanzigminütige einsätzige „Musik für Orchester“, die 1912 neubearbeitet und erweitert wurde. Am 16. Januar 1911 kam die erste Fassung dieses Werks zusammen mit einer etwa gleich langen „Musik für Geige und Orchester“ und dem „Liebeszauber“ für Tenor und Orchester nach Hebbel (beide 1913 ebenfalls überarbeitet und uminstrumentiert) in einem durch Stephans Familie finanzierten Konzert in München zu Gehör.

Die zeitgenössische Kritik war von Anfang an voll Anerkennung. Die 1911 in Danzig uraufgeführte „Musik für sieben Saiteninstrumente“ würdigte der Kritiker Paul Bekker als „hervorragende Leistung eines bizarrphantastischen, aber selbständigen und reichen Talents“. Vollends den Durchbruch und einen Exklusivvertrag mit dem Verleger Schott brachte das Konzert auf dem Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Jena vom 6. Juni 1913, auf dem die drei älteren Werke in der Umarbeitung erstmals zu Gehör kamen.

Seit 1909 arbeitete der Komponist an seiner umfangreichsten Schöpfung, der Oper „Die ersten Menschen“, in der Textvorlage ein „erotisches Mysterium“ des Expressionisten Otto Borngräber. Sie erzählt die Geschichte von Adahm und Chawa nach deren Vertreibung aus dem Paradies und von Kajin und Chabel (wie Eltern und Söhne hier heißen). Musikalisch erinnert das Werk an Debussy, wenngleich Stephan harmonisch oft über diesen hinausgeht und sich der gezähmten Atonalität von Richard Strauss’ „Elektra“ nähert, wie Stephan überhaupt in der Besetzung der Oper an Riesenorchester von „Salome“ und „Elektra“ anknüpft, der beiden damals „modernsten“ zeitgenössischen Opern.

1914 waren „Die ersten Menschen“ vollendet, doch wegen des Krieges kam die Oper erst 1920 zur Uraufführung. In ihrem geistigen Gehalt versucht die Oper, Konflikte um einen ödipalen Aufstand Kains gegen Adahm, was den Brudermord auslöst, mit alttestamentarischer Gottsuche zu verknüpfen. Kain muß nach seiner Tat ruhelos die Welt durchziehen. Die Oper endet unerwartet mit einer dithyrambischen Sonnenaufgangsszene, in der Adahm mit Eva aufbricht, um ein neues Menschengeschlecht zu gründen.

Die Oper darf man wohl als eines der unterschätztesten deutschsprachigen Bühnenwerken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen – trotz ihrer musikalischen Kühnheiten und des nicht opportunen Sujets wurde sie selbst während des Dritten Reichs gespielt, geriet aber in der Nachkriegszeit in Vergessenheit. Wilfried Zillig spielte 1952 für den Hessischen Rundfunk noch die klassische, jedoch stark gekürzte Referenzaufnahme des Werks ein, dann wurde es still darum. Die vollständige Fassung erklang erst 1998 konzertant unter K. A. Rickenbacher im Berliner Schauspielhaus, 2004 erschien bei Naive eine weitere Einspielung unter Mikko Franck.