© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Die Falle komplexen Denkens
Der Soziologe Armin Nassehi erklärt die politische Alternative von rechts und links für obsolet
Felix Dirsch

Erich Fried wußte es einst in schöner Lautmalerei zu Papier zu bringen: „Lechts und rinks“ könne man angeblich nicht „velwechsern“, und er fügt hinzu: „werch ein illtum!“ Jahrzehnte nach der Veröffentlichung dieser Weisheit pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß diese alte Unterscheidung des Politischen mittlerweile vollends obsolet geworden ist.

Der Soziologe Armin Nassehi möchte aber in seiner neuesten Publikation keine Trivialitäten belegen. Er gibt im Kontext aktueller Debatten, etwa über die Wachstumsproblematik oder über die Finanzkrise, Einblicke in die Analyse moderner Gesellschaften. Es ist nicht überraschend, daß der Münchner Gelehrte auf Begriffe zurückgreift und sie weiterentwickelt, die aus dem Reservoir der Klassiker seiner Disziplin (Max Weber, Émile Durkheim, Niklas Luhmann) stammen. 

Anhand vielgestaltiger systemtheoretischer Erklärungsmuster – Komplexität, Kommunikation, verteilte Intelligenz, lose gekoppelte Netzwerke, im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wirksame Logiken von Funktionssystemen – wird dem Leser verdeutlicht, was moderne Sozialität bedeutet.

Nassehi wirft Pegida Schwarzweißmalerei vor

Wie hilflos die traditionelle Differenzierung von konservativ und progressiv daherkommt, plausibilisiert Nassehi am Beispiel der Verschiebung von analogen Nachrichten auf digitale. Gelebt wird – und dafür lassen sich zahlreiche Beispiele finden – in analogen Welten, verarbeitet jedoch werden die Informationen in digitalen. Auch diese Beobachtung ist ein Versuch, die Gegenwartsgesellschaft anders zu beschreiben als in herkömmlichen Kategorien, die davon ausgingen, daß der einzelne öfters rechts lebe, aber links rede.

Wer vernetztes Denken propagiert, möchte vorurteilsfreies Denken präsentieren. Da liegt eine modische Pegida-Schelte nahe. Die Mitglieder dieser Bewegung, so Nassehi, präferierten Schwarzweißmalerei. Auf den wahren Kern des Anliegens der Dresdner Demonstranten, die tendenzielle Marginalisierung einheimischer Bevölkerungsschichten infolge der ungebremsten Massenimmigration geht der Verfasser nicht ein.

Immerhin besitzt Nassehi den Mut, seinen Briefwechsel mit dem Inhaber des Antaios-Verlages, Götz Kubitschek, abzudrucken, quasi als Konkretisierung des basalen politischen Codes. Ohne Distanzierung kommt der Linksintellektuelle nicht aus, aber die Behandlung des aus dem Diskurs zumeist ausgegrenzten rechten Publizisten ist überaus fair. 

Es überrascht nicht, daß ein im akademischen Milieu salonfähiger Lehrstuhlinhaber den Gedanken ablehnt, daß eine „Gruppenexistenz des ‘Wir’ im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn“ unhintergehbar sei, wie Kubitschek betont – eben deshalb, weil das Individuum sich angeblich nicht über bestimmte Zugehörigkeiten definieren könne. Die Bedeutung nationaler Bindungen leuchtet dem Skeptiker wahrscheinlich erst ein, wenn er die Begrenztheit der Soziologenterminologie existentiell erfährt. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut zählte sich auch lange Zeit zur politischen Linken und predigte Universalismus, ehe er schmerzlich erfahren mußte, daß die Verachtung des Eigenen zur massiven Stärkung der islamischen Präsenz führt, was die Arbeit als Intellektueller jüdischer Herkunft spürbar erschwert, künftig vielleicht unmöglich machen wird. 

Die Bewertung der migrationspolitischen Folgekosten erfordert Fähigkeiten, die einem an den Differenziertheiten moderner Gesellschaft geschulten Theoretiker durchaus einleuchten sollten. Fehlt ein solches Sensorium, wird man den Titel wohl bald in einer Weise verstehen, die vom Autor kaum beabsichtigt sein dürfte.

Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Murmann-Verlag, Hamburg 2015, gebunden, 344 Seiten, 20 Euro