© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Der schwierige Weg zur „Verabschiedungskultur“
Einwanderung: Unter dem Druck des anhaltenden Zustroms von Asylbewerbern gerät die geringe Zahl der Abschiebungen in die Kritik
Cornelius Persdorf

Ingbert Liebing steht unter Beschuß. Anfang vergangener Woche hatte Liebing im Flensburger Tageblatt um eine deutsche „Verabschiedungskultur“ geworben. Angesichts der „zunehmend kippenden Stimmung in der Bevölkerung“ forderte er die Bundespolitik auf, „öffentlich sichtbare Zeichen der Abschiebung“ zu setzen. „So wie Kamerateams Flüchtlinge an der Grenze bei der Einreise zeigen, sollten Kamerateams auch zeigen, wenn ein Bus in die andere Richtung fährt“, sagte Liebing. Von der politischen Konkurrenz hagelte Vorwürfe wie „rechtspopulistisches Gequatsche“ und „braune Abschiebungsrhetorik“.

Liebings Vorstoß zielt auf die Kluft zwischen der Zahl der abgelehnten Asylbewerber und jener der Abschiebungen: 2015 wurden nach Auskunft des 

Bundesinnenministeriums mit 8.178 Personen allein im Zeitraum von Januar bis Juli fast so viele Personen abgeschoben wie im gesamten Jahr 2014 (10.884). Diese Zahl wirkt klein, setzt man sie ins Verhältnis zur Anzahl der „als unbegründet“ beziehungsweise der „als offensichtlich unbegründet“ abgelehnten Fälle. Diese beziffert das Innenministerium auf 56.873 im Zeitraum Januar bis August. Das entspricht 37,2 Prozent aller Asylentscheidungen. Im Sinne des Grundgesetzes asylberechtigt ist dagegen lediglich ein Prozent der Antragsteller.

Die hohe Differenz zwischen abgelehnten Asylbewerbern und Rückführungen hat unterschiedliche Ursachen.Hauptgrund ist nach Meinung des Konstanzer Asylrecht-Experten Kay Heilbronner, daß die Verfahren aus vielfältigen Gründen schlicht versanden. Etwa weil Familien nicht vollzählig am Abreisetermin erscheinen. Dies trage zur hohen Attraktivität Deutschlands als Zielland für Flüchtlinge bei.

Häufig wird die geplante Abschiebung bereits im Vorfeld ausgesetzt, weil die Behörden unter dem öffentlichen Druck  linker „Unterstützergruppen“ von einem Vollzug absehen. Als Konsequenz daraus wollen etwa Sachsen-Anhalt und Niedersachsen Abschiebungen künftig nicht mehr ankündigen. „Die Erfahrung hat gezeigt, daß bei angekündigten Abschiebungen rund ein Drittel nicht angetroffen wurden. Das hat zur Folge, daß diejenigen, die kein Schutzbedürfnis haben, die offensichtlich keine Bleibeperspektive haben, denen jetzt in Deutschland die Plätze wegnehmen, die die Plätze bitter nötig haben“, rechtfertigte Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) im ZDF die neue Regelung.

Doch auch diese können scheitern, wenn die Betroffenen Widerstand leisten. Nahezu alle Asylbewerber legen gegen drohende Abschiebungen Widerspruch ein, meist gut beraten von Anwälten, die sich auf diese Verfahren spezialisiert haben. Mitunter wehren sich die Abzuschiebenen auch körperlich. Die Abschiebung durch die Polizei scheiterte im laufenden Jahr in 141 Fällen beispielsweise daran, daß die Betroffenen bewußt einurinierten oder sich gewaltsam zur Wehr setzten. In 74 weiteren Fällen weigerte sich die Fluggesellschaft, abgelehnte Asylbewerber mitzunehmen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei hervorgeht. 63 Abschiebungen wurden aufgrund medizinischer Einwände verhindert. Die Weigerung von Zielstaaten, den Abgelehnten anzunehmen, spielt hingegen mit nur acht Fällen eine untergeordnete Rolle. Als besonders kostspielig erwies sich unterdessen der Widerstand abgelehnter Asylbewerber gegen ihre Abschiebung in Sachsen.  Dort mußte Innenminister Markus Ulbig (CDU) in dieser Woche auf Anfrage der AfD-Fraktion zugeben, daß der Freistaat für gescheiterte Abschiebungen in diesem Jahr bereits mehrere zehntausen Euro für bereits gebuchte Flüge in den Sand gesetzt hat. Demnach wurden 595 dieser Flüge von abgelehnten Asylbewerbern aus Sachsen nicht angetreten, berichtete Ulbig und nannte als Gründe unter anderem „Renitenzen während des Abschiebevorgangs“. Derzeit gebe es allein in Sachsen 4.913 „vollziehbar Ausreisepflichtige“.

Forderung nach Entbürokratisierung

Mittlerweile hat die EU Deutschland für seinen zu weichen Umgang mit abgelehnten Asylbewerbern gerügt. In einem Schreiben kritisierte der Direktor der Generaldirektion Migration und Inneres, Matthias Ruete, daß im vergangenen Jahr von 128.000 Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung nur 22.000 zur Ausreise bewogen werden konnten, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Bei weiteren 12.000 blieb die Aufforderung, Deutschland zu verlassen, folgenlos. Ferner bemängelte Ruete, daß Deutschland in diesem Jahr bislang zwar 218.000 Asylanträge entgegengenommen, aber nur in 156.000 Fällen der Direktion die nötigen Datensätze zur Verfügung gestellt habe. Bei einer unzureichenden Stellungnahme zu diesem Mißstand droht Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren. Zwei solcher Verfahren sind bereits eingeleitet, weil Deutschland die Umsetzung von EU-Richtlinien zur Ausgestaltung von Asylverfahren bisher nicht umgesetzt habe. 

Die Innenminister von Bund und Ländern suchen fieberhaft nach Wegen, sowohl die Registrierung der Asylbewerber als auch die Abschiebungen deutlich zu beschleunigen. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat in diesem Zusammenhang die personelle Unterversorgung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlingen (Bamf) beklagt. Er forderte vom Bund die Einrichtung einer schnellen Einsatzgruppe („Taskforce“) für die Bearbeitung von Asylanträgen. Gleichzeitig räumte er in der Welt eine verschleppte Registrierung von Einwanderern in seinem Bundesland ein, verwies jedoch auf die überforderten Landesaufnahmebehörden und plädierte für eine allgemeine Straffung des Verfahrens: „Wenn wir da schneller werden, hilft das wenig, wenn nicht auch die Asylverfahren schneller begonnen und dann auch abgeschlossen werden.“ Gesonderte Aufnahmezentren für Bewerber mit offensichtlich geringer Aussicht auf Erfolg, wie Bayern sie plant, bezeichnete der niedersächsische Innenminister als „Quatsch wie die Forderung, Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern in den Erstaufnahmen zu belassen“. Solche Zentren seien ohne eine drastische Kürzung der Asylverfahren „illusorisch“, da eine permanente Überbelastung herrsche.

Ausgerechnet das rot-rot-grün regierte Thüringen zeigt hingegen, wie schnell Fortschritte erzielt werden können. Durch Entbürokratisierung und neue Anreize zur Rückkehr ist sowohl die Zahl der Abschiebungen als auch jene der freiwilligen Rückreisen sprunghaft angestiegen: Allein im September sind im Freistaat 46 Illegale abgeschoben worden. Dies entspricht nahezu der Hälfte der Gesamtzahl des bisherigen Jahresverlaufes bis August (108). Außerdem hätten nach Auskunft von Thüringens Migrationsminister Dieter Lauinger (Grüne) 507 Abgelehnte das Land freiwillig verlassen. Der Ausschaffung von somit insgesamt 615 Personen stehen allerdings 3.600 abgelehnte Asylbewerber entgegen. Außerdem kämen noch immer täglich bis zu 500 Asylbewerber in Thüringen an. 

Unter dem Druck des anhaltenden Flüchtlingsstroms haben mittlerweile auch die Sozialdemokraten auf Bundesebene die Notwendigkeit erkannt, Abschiebungen konsequent umzusetzen. „Wer keinen Asylgrund darlegen kann und dessen Antrag abgelehnt wird, muß Deutschland wieder verlassen, damit die Hilfe auf die wirklich Schutzbedürftigen konzentriert werden kann“, heißt es in einem Papier der SPD-Spitze. Bund und Länder müßten bei Abschiebungen noch enger zusammenarbeiten. „Wer nach Abschluß des Verfahrens und nach Ausschöpfung von Rechtsmitteln einen vollziehbaren Abschiebebescheid hat, soll nur noch Leistungen auf dem Niveau des unabweisbaren Existenzminimums erhalten. Wir wollen klar machen: In diesen Fällen muß die Ausreise rasch erfolgen.“ Entsprechende Regelungen finden sich in dem Gesetzespaket zum Asylrecht, das vom Bundeskabinett Anfang der Woche beschlossen wurde und im Schnellverfahren vom Bundestag behandelt werden soll, damit es bereits im November in Kraft treten kann. Liebings Vorstoß zu einer deutschen „Verabschiedungskultur“ fand allerdings keine Berücksichtigung.

Foto: Ankunft von Asylbewerbern am Hauptbahnhof von Passau: Innenminister suchen fieberhaft nach Wegen, Abschiebungen zu beschleunigen