© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Keiner entgeht dem deutschen Sozialstaat
Reportage: Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin hält unvermindert an und läßt den Behörden keine Atempause
Ronald Gläser

Am Lageso ist wieder die Hölle los. Kurz vor neun Uhr drängeln sich schon wieder Hunderte Asylbewerber vor der Zentralen Anlaufstelle in Berlin. Manche wollen ihre Unterlagen abholen. Andere haben noch nicht mal eine Wartenummer erhalten. Viele warten schon sehr lange. Auch Edmond und seine beiden Freunde. Die drei Albaner sind gerade eingetroffen. Nun warten sie auf ein Asylverfahren, wobei das für sie eine Formalität ist, deren Ausgang sie nicht sonderlich interessiert. „Wir wollen auch Karten erhalten“, sagt der Freund von Edmond. Die Asylbewerber erhalten ein Taschengeld in Höhe von mindestens 143 Euro monatlich. Allerdings nicht in bar, sondern in Form einer Chipkarte, mit der sie das Geld abholen können.

Es sind vorwiegend Männer aus 

Balkanstaaten, die hier dichtgedrängt vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso, aushalten. Aber nicht nur. Es gibt auch einige wenige Afrikaner, Frauen mit Kopftüchern, Familien mit kleinen Kindern. Ein Sammelsurium von Zuwanderern aus Afrika und Asien. Und jeden Tag werden es mehr.

Eine Frau verteilt Birnen und Schokoriegel

Am selben Tag, mittags: Der kleine Schönefelder Bahnhof vor den Toren Berlins erlebt einen Polizeieinsatz wie lange nicht. Zwei Dutzend Fahrzeuge von Polizei, Bundeswehr und Feuerwehr haben alle Parkplätze beschlagnahmt. Die 

Einfahrt für normale Bahnkunden ist gesperrt. Flatterband und eine Polizeikette bilden ein Spalier vom Gleis sechs bis zu den Reisebussen, die am Eingang parat stehen. 

Alles wartet auf Sonderzug EN 2942 aus Salzburg. Er transportiert mehr als 400 Asylbewerber aus Österreich nach Berlin. Von hier aus sollen sie auf die Brandenburger Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt und nach Berlin aufgeteilt werden. Was ist der Grund für dieses Großaufgebot? Und wie viele Polizisten sind überhaupt hier? „Das spielt keine Rolle“, antwortet der zuständige Einsatzleiter der Polizei schroff. Auch seine Kollegen machen keine genaueren Angaben.

Auf dem Gleis stehen Feuerwehrleute und DLRG-Helfer bereit, um die Asylbewerber in Empfang zu nehmen und gegebenenfalls zu versorgen. Die Feuerwehrleute wissen auch nicht genau, worin ihre Aufgabe bestehen soll, da sie nicht mit kranken Fahrgästen rechnen. „Das war so gewünscht“, sagt einer der Wortführer. Ein Mädchen mit Smartphone gesellt sich dazu, kaum volljährig und dunkelblond. Sie arbeitet beim Bündnis „Zukunft hilft“, sagt sie und verkündet stolz, sie wolle per Facebook von der Ankunft der „Flüchtlinge“ berichten. Ihr Plan: Mit den Asylbewerbern im Bus in die Erstaufnahmeeinrichtung mitfahren. Ein Feuerwehrmann scherzt: „Da müssen wir erst deine Haare dunkel färben, sonst gehst du nicht als eine von denen durch.“ Ein anderer wirft ein: „Das sind fast nur Männer.“ Und die einzige Feuerwehrfrau meint: „Da mußt du aufpassen, nach dem, was wir so aus der Gerhart-Hauptmann-Schule erfahren haben.“ Sie spielt auf die Gewaltakte und Vergewaltigungsfälle im Migrantenmilieu an, die sich in den vergangenen Jahren in Berlin-Kreuzberg ereignet haben. Das Mädchen schaut schockiert.

Dann fährt der IC mit neun Minuten Verspätung im Bahnhof ein. Vorsichtig steigen die Insassen aus. Wie sich herausstellt, sind die Freunde des Mädchens linke Asylaktivisten, die ein „Refu-

gees welcome“-Transparent hochhalten. Unter ihnen ist Dirk Stegemann, ein alter Bekannter der linken Szene Berlins (Bündnis „Rechtspopulismus stoppen“). Außerdem ist noch eine junge Berlinerin da, die jedem Fahrgast einen Schokoriegel und eine kleine Birne zusteckt. Ihr ganzer Rucksack ist voll damit. „Kommen Sie zu jedem Zug und verteilen was?“ „Nein, nur diesmal.“

Die Fahrgäste, die aus dem Zug steigen, sind überwiegend männlich und stammen vom Balkan oder aus dem Nahen Osten. Es sind auch Frauen und Kinder dabei, aber nur wenige. Fast alle der Frauen tragen Kopftücher. Die Polizei schleust die Gruppe zu den Bussen.

Einer der Feuerwehrmänner verrät dann, wieso der große Aufwand betrieben wird: „Die sollen nicht entwischen.“ Wieso entwischen? Schließlich können sich Asylbewerber später frei bewegen? „Ja“, sagt er, „aber vorher müssen sie unbedingt in Deutschland registriert worden sein. Sonst könnten sie illegal durch Deutschland weiterreisen und in anderen Länder gelangen“, erklärt er und schaut sich dabei um.

In der Tat: Es sind vor zwei Wochen schon einmal 180 Asylbewerber, die auf dem Weg von München nach Berlin waren, aus dem Zug gesprungen. Hinter Leipzig haben sie die Notbremse gezogen und das Weite gesucht. Sie wurden damals in Sachsen-Anhalt wieder eingesammelt und in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht, obwohl sie eigentlich in andere Länder, mutmaßlich nach Skandinavien, wollten. 

Am Abend desselben Tages kommen zwei weitere Busse aus München mit je 50 Personen in der Hauptstadt an. Und am darauffolgenden Tag ein neuer Zug. Das Lageso wird sich auf absehbare Zeit nicht leeren.

Foto: Asylbewerber bei ihrer Ankunft am Bahnhof in Schönefeld: „Die sollen nicht entwischen“