© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Die Stehgeiger in der Gebläsehalle
Papiertiger der Kapitalismuskritik: Johan Simons inszenierte Wagners „Rheingold“ bei den Ruhrfestspielen
Sebastian Hennig

Der niederländische Regisseur Johan Simons wurde stets dafür gerühmt, das Drama aus dem festlichen Theaterbau herausbewegt und in die Werks- und Lagerhallen gebracht zu haben. Womit es nicht nur den Kunstgenießern, sondern dem Volk genießbar wurde. Dieser Prozeß ist längst abgeschlossen und Simons arriviert. Die abseitigen Spielorte stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kultursnobs. Die Subkultur hat sich in einer verwirrenden Weise über die Hochkultur gestülpt, daß deren gestriger Feierprunk wie eine verlegene Höflichkeit gegenüber dem Publikum wirkt. 

Als neuer Intendant der Ruhrtriennale, die am Sonntag zu Ende ging, ist der 69jährige Simons der Herr über einen wahren Trust von pittoresken Industriekathedralen. Lokschuppen, Hafengelände, Gießhallen und Schalthäuser in Mülheim, Duisburg und Essen gehören dazu. Eine Theaterfassung von Pier Paolo Pasolinis „Accattone“ wurde in einer ehemaligen Kohlenmischanlage in Dinslaken gegeben.

Ein bedrückendes Brummen lastet über dem Publikum

Die attraktivste Lokalität ist aber unzweifelhaft die Jahrhunderthalle in Bochum. An dieser wird das Nomadenhafte der Weltindustrie deutlich. Die Halle wurde bereits 1902 in Düsseldorf  als demontierbare Stahlkonstruktion errichtet. Dort stand die verspielte Ausstellungsarchitektur mit Turm und Ziergiebeln. Nach der Repräsentation diente sie dann in Bochum als Gebläsemaschinenhalle für den Hochofen.

Der gesamte Industriekomplex erstreckt sich über nahezu einen Hektar. Durch die bauliche Revitalisierung wurde er im Jahr 2003 abermals zu einem prunkenden Ort, der jedes Residenz- und Nationaltheater an rhetorischer Gewalt übertrifft. Mit der Verleihung des europäischen Filmpreises 2009 und der weltweiten Fernsehausstrahlung trat dieser hoffärtige Charakter deutlich hervor. Mit der Deindustrialisierung und neuen Formen der mentalen Ausbeutung haben diese Orte ihre proletarische Unschuld längst verloren.

Die Inszenierung von Richard Wagners „Rheingold“ durch den Intendanten Simons birgt diese unaufgelösten Widersprüche alle in sich. Es handelt sich um ein in jeder Hinsicht hybrides Gestaltungsprodukt. Lange vor Beginn der Vorstellung lastet ein bedrückendes Brummen über den Köpfen des Publikums. Dieses ist auf einer steil ansteigenden Rampe plaziert. Der finnische Klanggestalter Mika Vainio ist für den Lärm verantwortlich. Um das Podium mit dem Orchester sind hierarchische Bühnensegmente angeordnet, die sich zu keinem Bühnengeschehen fassen lassen.

Der alte Schaukasten ist aber keine Erfindung repressiver Kulturpraktiker, sondern schlichtweg der menschlichen Wahrnehmungsweise am besten angepaßt. Das wird nun hier getrost ignoriert. Hinten oben thront Walhall in einer gründerzeitlichen Neorenaissance, die seit Patrice Chéreau zum „Rheingold“-Klischee geworden ist. Der Gipsstuck einer Decke kehrt als Inkrustation am Boden der Wasserbecken im Vordergrund wieder, die Rhein und Nibelheim zugleich bedeuten. Ein Kronleuchter steht wie eine bizarre Pflanze vom feucht-morbiden Boden ab. In den Pfützen liegen lebensechte Nachbildungen der Rheintöchter hingestreckt.

Undramatische Hektik, chaotisches Intermezzo

Wagners Musik wird hemmungslos ausgelebt vom Orchesterleiter Teodor Currentzis. Der bemächtigt sich nach Mozart, Purcell und Rameau zum erstenmal Wagners. Daß er für die Musik verantwortlich sei, ist eine Übertreibung. Er hat sich einfach kopfüber in das Abenteuer gestürzt und gezeigt, daß er sich über Wasser halten, stellenweise sogar schwimmen kann. Wohin die Reise gehen soll, bleibt aber ungewiß. Offenbar hat ihm die Beschäftigung mit Gustav Mahler eine Jugendstil-Brücke zu Wagner gebaut. Damit er die Ausbrüche seines „MusicaAeterna“-Orchesters nicht zügeln muß, hat er den Sängern Mikrophone an den Kopf kleben lassen. 

Schnell verliert man das Interesse an der Überinszenierung. Zwischen dem Gnom und dem Übermenschen ist nirgendwo mehr Platz für Menschliches. Eine Genugtuung ist es, wie die elektroakustischen Geräuschen von der Allmutter Natur durchkreuzt werden, die es zum einen während des ganzen ersten Bildes auf das Dach prasseln läßt. Zu einigen besonders markanten Ereignissen sendet sie Blitze herab, die ganz naturgemäß von rollendem Donnern gefolgt werden. Ein verschwitzter Alberich (Leigh Melrose) turnt mit verdrehten Augen auf den Silikonpuppen der Rheintöchter herum. Wotan (Mika Kares) ist bereits völlig in einer Resignation versunken, die ihm allenfalls in der „Walküre“ zustünde. Er seufzt uns mit seiner schönen Stimme einen Gott voll ungewöhnlicher Melancholie herbei. Undramatische Hektik wütet bei diesem Schauspiel ohne Bühne.

Als dann die Riesen Fasolt (Frank van Hove) und Fafner (Peter Lobert) mit Freia (Agneta Eichenholz) abziehen und die Götter in Ermangelung der goldenen Äpfel zu schwächeln beginnen, setzt ein chaotisches Intermezzo ein. Ein heißes Gebläse verbreitet elektrischen Mißton. Das Schlagzeug macht sich selbständig. Die Musiker erheben sich und stürzen mit Hämmern bewaffnet durch die Halle. Eine bislang stumme Statistenfigur, bezeichnet als Sintolt der Hegeling (Stefan Hunstein), plärrt alarmierende Botschaften ins Megaphon.

Der Proletarier ist zum Kleinbürger geworden

Im ganzen handelt es sich besonders bei den fremden Zutaten um zahmen Kitsch. Hier ist der erklärte Proletarier im Theaterregisseur längst dem Kleinbürger zum Opfer gefallen. Er verbreitet die Angst vor einer Apokalypse, die in anderer Gestalt längst schon eingetreten ist. Es ist jene Abweichung im Spektrum des „flexiblen Normalismus“ (Jürgen Link), die das scheinbar kritisierte System elastisch auffängt und an dem es sich stärkt. Der unkommentierte Wagner ist in seiner reinen Schönheit dem wahren Raubtierkapitalismus viel gefährlicher als dieser Papiertiger der Kapitalismuskritik.

Das sibirische Provinz-Ensemble ist nicht außergewöhnlicher, als viele deutsche Provinz-Orchester, welche die Not in den letzten Jahren zu Spitzenleistungen anspornte. Der Ruf scheint zumindest zu gleichen Teilen ein Resultat guter Arbeit sowie raffinierten Marketings zu sein. Zudem liegt die Stärke von „Music Aeterna“ vielleicht nicht unbedingt in Wagners Musik. Daß die Leistung der passablen bis wirklich hervorragenden Sänger durch tontechnische Verstärkung nivelliert ist, bleibt ein wesentliches Ärgernis. Es entsteht der Höreindruck einer sehr gut abgemischten Live-CD.

Es ist eine Perfektion der Technik in Friedrich Georg Jüngers Sinne zu bestaunen, welcher statt der Stimmen der Apparat ihrer Reproduktion zugrunde liegt. Damit die Schwachen nicht untergehen wurden die Starken an die Leine des Mikrophonkabels gelegt. Das Ergebnis wirkt wie eine Glanzlackierung ohne jede haptische Sensation. Dabei hätten der Wotan, der Loge (Peter Bronder), die beiden Riesen und die Erda (Jane Henschel) das Zeug dazu gehabt, ihr Publikum mit Naturstimme zu überwältigen.

Dreimal läßt Currentzis seine Streicher sich von den Plätzen erheben, um aus dem ganzen Körper heraus zu spielen. Die Stehgeiger in der Industriehalle sind die beredte Signatur dieses Abends, der groß vor allem durch den Schauplatz war. Die Halle ist nämlich wirklich riesig. Ein unkritisches Publikum dankt dem Impresario des Kunstspektakels und seinem Wundertier von Dirigenten mit stehenden Ovationen.

Fotos: Rheintöchter Floßhilde, Wellgunde und Woglinde (Jurgita Adamonyté, Dorottya Láng, Anna Patalong), dahinter sitzend Freia (Agneta Eichenholz): Die Musik wird hemmungslos ausgelebt; Loge (Peter Bronder), Alberich (Leigh Melrose), Mime (Elmar Gilbertsson) und Wotan (Mika Kares): Verstärkung durch Mikrophone