© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Grüße aus London
Verdrängtes Cockney
Von Derek Turner

Jede Nation hat ihr ganz eigenes Selbstbild, das sich zusammensetzt aus spezifischen kulturellen Eigenschaften, gemeinsamen historischen Erfahrungen, Landschaften oder Gebäuden, herausragenden Persönlichkeiten und gesellschaftlichen Typen. Für eine Mehrzahl der Engländer beinhaltet dieses Selbstbild vermutlich vage Vorstellungen von Buckingham Palace, der anglikanischen Kirche, Heinrich VIII., der Battle of Britain, dem WM-Finale 1966 – und den Londoner Unterschichten, umgangssprachlich auch als Cockneys bekannt. Von all diesen ehrwürdigen Traditionen und Institutionen scheint der Cockney am stärksten durch die Moderne gefährdet.

Der Begriff Cockney kommt von cokeney und cock’s egg, einer Bezeichnung für ein kleines, mißgebildetes Ei, das manchmal von jungen Hennen gelegt wird. Er wurde bereits im 12. Jahrhundert verwendet und kam insbesondere ab dem 17. Jahrhundert in Mode als Spottname für Londoner. Ursprünglich galten nur Menschen, die in Hörweite der „Bow Bells“ – der Glocken der St. Mary-le-Bow Church in Cheapside – zur Welt kamen, als Cockneys.

Johnny Rotten und der traurige Geruch nach gebrochenen Versprechen. 

Die Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff zerstört, inzwischen zwar wieder aufgebaut, aber da hatte der Exodus der Cockneys längst begonnen – in den 1950er Jahren waren sie als erste von der Masseneinwanderung aus den ehemaligen Kolonien betroffen und flohen aus dem Londoner East End nach Essex. In den 1960ern begann die Labour Party das Interesse an ihrer autochthonen Wählerschaft zu verlieren und sich verstärkt auf die stetig wachsende Klientel aus dem Commonwealth zu konzentrieren. Margaret Thatcher verspielte ihre Treue, indem sie angestammte Industriezweige zerstörte und die Einwanderung nicht unter Kontrolle brachte.

Die unvermeidliche Folge ist, daß gebürtige Londoner in den traditionsreichen Vororten zu einer Rarität wurden. In ihren Straßen höre ich heute Akzente aus aller Herren Länder. Was bleibt, sind Reliquien – Skelette in Pestgruben, Pilgerzeichen im Themseschlamm, die Cockney-Figuren von Charles Dickens, die Wohlfahrtsorganisation „Pearly Kings and Queens“ und der derbe Humor des Sex-Pistols- Sängers Johnny Rotten – sowie ein trauriger Geruch nach gebrochenen Versprechen.