© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Gefährliche Situation
Syrien: Rußlands Vorgehen erzürnt die Allianz / „Alawitisches Israel “ als Moskaus Fernziel
Thomas Fasbender

Seit Beginn der russischen Luftangriffe auf Ziele in Syrien ist der Ton der Nato schärfer geworden. „Die Alliierten fordern die Russische Föderation auf, die Angriffe auf die syrische Opposition unverzüglich zu unterlassen.“ Ausgenommen sei nur der Islamische Staat (IS), erklärte das Bündnis. Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einer „schwerwiegenden Verletzung“ des türkischen Luftraums durch russische Bomber und warnte gleichzeitig davor, daß Moskaus Vorgehen zu„gefährlichen Situationen“ führen könne. 

Der Kreml reagiert mit Gleichmut. „Wir haben immer gesagt, wir kämpfen gegen den IS und gegen andere Terrorgruppen“, so Außenminister Sergei Lawrow. Zu den „anderen Terrorgruppen“ gehören ihm zufolge die Rebellen der Freien Syrischen Armee, die der Westen unterstützt. Eine weitere Rebellentruppe sei die al-Nusra-Front, der syrische al-Qaida-Arm. Daneben gibt es andere, weithin verfeindete Splittergruppen. 

Dagegen begrüßt ein Teil der syrischen Kurden, die Demokratische Union, als auch der Chef der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masud Barzani, die Russen als Partner im Kampf gegen den IS.

Begonnen hat alles 2011, als politische Demonstrationen im Zuge des „Arabischen Frühlings“ in einen Bürgerkrieg umschlugen. Nach den Erfahrungen in Libyen, wo seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes mit westlicher Militärhilfe das Chaos herrscht, setzt Rußland konsequent auf den Erhalt des syrischen Staats unter Präsident Baschar al-Assad. Nach den Gründen gefragt, verweist Moskau gern auf die Ergebnisse der westlichen Demokratisierungspolitik in der Region.

Doch Chaos oder Stabilität sind nicht die einzigen Parameter. Die Assad-Dynastie verkörpert die Herrschaft der Alawiten, einer religiösen Minderheit im schiitischen Spektrum des Islam. Alawiten besiedeln die Küstengebirge der Levante westlich des Orontes-Flusses. Ihre religiöse Ausrichtung bedingt die politische Nähe zum schiitischen Iran – und damit die Distanz, inzwischen längst Feindschaft, zu den sunnitischen Rivalen Türkei und Saudi-Arabien. In gewisser Weise bilden die Alawiten einen schiitischen Brückenkopf am Mittelmeer.

Rußland, dessen Regierungen über Jahre hinweg die Nähe zum Iran pflegten, hat mit seiner Präsenz in Syrien einen Fuß in der Tür des sunnitischen Islam. Als Schutzmacht der Alawiten um die Städte Tarsus und Latakia bildet es ein Gegengewicht zu den türkischen und arabischen Ambitionen in der Region. Dazu ist nicht einmal erforderlich, daß Assad und Rußland den syrischen Osten vom IS zurückerobern. „Alawitisches Israel“, so nennt der Moskauer außenpolitische Vordenker Fjodor Lukjanow den – möglicherweise – künftigen syrischen Rumpfstaat zwischen dem Libanon und der Türkei.