© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Ikone der Moderne
Frankreich: Ausstellung mit Werken des Bildhauers Alberto Giacometti
Martin Voelkel

Die kleine bretonische Stadt Landerneau kennt kaum jemand. Dafür kennt in Frankreich jeder den Namen Leclerc oder verbindet ihn automatisch mit einer der größten Warenhausketten des Landes. Seit zwei Jahren existiert in Landerneau, der Heimatstadt des Firmengründers Edouard Leclerc, eine Stiftung, die seinen und den Namen seiner Frau trägt und die in den Gebäuden eines ehemaligen Kapuzinerklosters internationale Kunst präsentiert. Für Aufsehen sorgte schon 2013 eine Miró-Ausstellung, in diesem Jahr werden mehr als einhunderttausend Menschen den Weg in den Nordwesten der Bretagne gefunden haben, um die Werke Alberto Giacomettis zu bewundern.

Der Bildhauer, Maler und Grafiker Giacometti gehörte zu den bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Der 1901 in einem kleinen Ort Graubündens geborene Schweizer wurde von wesentlichen Strömungen seiner Zeit geprägt. Die mehr als 150 Exponate, die in Landerneau versammelt sind, geben einen umfassenden Eindruck von seiner Entwicklung, vor allem aber von der Energie, die es Giacometti erlaubte, sich von Einflüssen immer wieder zu emanzipieren und seinen eigenen Weg zu gehen.

Zu den entscheidenden Schritten gehörten seit den dreißiger Jahren die neuerliche Beschäftigung mit den alten Meistern, die Begegnung mit Picasso und der Philosophie des Existentialismus, die Abwendung von Surrealismus und Kubismus, überhaupt der Abstraktion, und die Hinwendung zum Konkreten. Die Fixierung Giacomettis auf die menschliche Gestalt in der zweiten Hälfte seines Lebens – er verstarb 1966 – ist ganz wesentlich auf diesen Veränderungsprozeß zurückzuführen. Dies ist ein Aspekt, der in der Ausstellung auch an den faszinierenden Kopfskizzen deutlich wird, die Giacometti mit Kugelschreibern auf Verpackungspapier oder benutzte Briefumschläge brachte und die trotz der Improvisation eindrucksvoller wirken als die Skizzen und ausgeführten Gemälde von seiner Hand.

Ganz im Zentrum stehen allerdings die Plastiken, von den kleinen „Stecknadelfiguren“ auf hohen Sockeln über die faustgroßen Stücke, die großen dünnen „Frauen von Venedig“, von denen zwei Abgüsse hier zum erstenmal der Öffentlichkeit gezeigt werden, bis zum „L’Homme qui marche“, dem „Schreitenden Mann“. Die lebensgroße Bronzefigur mit ihrer expressiven Gestik, den stark gestreckten Gliedmaßen und den für Giacometti typischen überformten Füßen, dem gespannt nach vorn gerichteten Körper und Kopf, dem auf das Wesentliche reduzierten Gesichtsausdruck, wird im letzten Raum gezeigt. Sie steht weitgehend isoliert, um die Wirkung derjenigen anzunähern, die unter freiem Himmel erreicht würde, und wer davor steht, zweifelt nicht daran, daß es sich um eine Ikone der modernen Kunst handelt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 25. Oktober in Aux Capucins in Landerneau zu sehen.

Der Katalog ( Verlag Editions FHEL) mit 216 Seiten und zahlreichen Abbildungen kostet, 35 Euro.

 www.fonds-culturel-leclerc.fr

Foto: Alberto Gioacometti, Schreitender Mann: Expressive Gestik, stark gestreckte Gliedmaßen