© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Der Flaneur
Die Kulisse der Masse
Josef Gottfried

Ob ich denn Englisch spräche, fragte sie mich in ebendieser Sprache, und ob ich ihr helfen könne. „Yes, sure“, entgegnete ich weltoffen, worum es denn gehe. Nun, entschuldigte sie sich, eigentlich sei das ja nicht ihre Art, es sei ihr auch furchtbar peinlich, aber sie habe ihren Koffer verloren, darin sei auch ihr Portemonnaie gewesen, darum würde sie fragen, ob ich ihr nicht etwas Geld ... „No, no“, sagte ich kopfschüttelnd. Um uns herum ergossen sich Menschenströme von Bahngleisen, aus Haupteingängen und von Rolltreppen in das Becken der Vorhalle, in dem sie und ich standen und uns anschauten.

Durch meine Grübelei hatte ich ihren zweiten Blick verpaßt, worauf sie die Geduld verlor.

Sie war so süß wie Winnie vom „Blutbuchenfest“ und schien so amoralisch wie Esther aus der „Möglichkeit einer Insel“. Fast schon wollte ich ihr einen Euro geben, weil ich ihr Schauspiel so gelungen fand und augenblicklich in sie verknallt war. Was hätte ich für ein Gespräch mit ihr gegeben: Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Wen hast du geliebt?

Leider konnte ich nur zwischen zwei Gefühlen für mich wählen, entweder die Verachtung für ein weiteres ihrer Betrugsopfer oder den Groll auf einen scharfsinnigen Geizhals. Durch meine Grübelei hatte ich ihren zweiten Anlauf in Form eines flehenden Blicks verpaßt, woraufhin sie die Geduld verlor und mich als Idioten titulierte, ich solle mich doch – und so weiter. Schimpfend suchte sie das Weite, so daß mir nur die Kulisse der Masse als Erinnerung an sie blieb, und auch das nur für wenige Sekunden, weil der Fluß mich erfaßte und forttrug. Außerdem mußte ich meine Bahn noch kriegen.

Als ich dann allein im Abteil saß und deutsche Kulturlandschaften an mir vorbeiflogen, überkamen mich leise Zweifel. Was, wenn sie das Geld tatsächlich für eine Fahrkarte ausgeben wollte? Oder ein löbliches Ansinnen hinter ihrem Betrugsversuch steckte? „Jetzt aber mal halblang, Josef“, sagte ich zu mir. „Das ist doch Quatsch.“