© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Fabrik der Geschichten
Ein französischer Roman über den Irrsinn im Asylsystem
Christian Vollradt

Woher dieser Haß, warum diese Aggressivität? In der Untersuchungshaft hat die namenlose Ich-Erzählerin Zeit zum Nachdenken. Über sich. Und ihre Tat. Einem Mann in der U-Bahn, erkennbar ein Einwanderer, hat sie eine Weinflasche auf den Kopf gehauen. Einfach so. Rassismus? Das scheidet aus, denn die Angreiferin und ihr Opfer haben etwas gemeinsam; die Herkunft aus einem fremden Land, die Hautfarbe: die „Lehmfarbe, die mich für immer mit dem Mann verbindet, den ich angegriffen habe“.

Nein, was sich in dieser Gewalttat entlädt, ist der Frust der Protagonistin, die als Dolmetscherin in der Asylbehörde arbeitet. Dort sitzt sie in einem Zwischenraum, muß vermitteln zwischen den „Privilegierten“, den beamteten „Entscheidern“ auf der einen und den Asylbewerbern auf der anderen Seite, den „menschlichen Zugvögeln“, den Leuten, „die wie ungeliebte Quallen die Meere befallen und sich an fremde Ufer geworfen haben“. Was sie übersetzen muß? „Ein einziges Märchen“, Geschichten von Verbrechen, Übergriffen, politischer oder religiöser Verfolgung. „Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Bildschirme“. Und für die Tränen beim Vortrag sorgen Zwiebeln, mit denen sich die Antragsteller, sekundiert von profitgeilen Asylanwälten, ausgestattet haben. Die Einwanderung via Asylrecht habe einen „neuen Markt“ geschaffen, „eine Fabrik für Geschichten und gefälschte Papiere“, die „Mikroökonomie der europäischen Großstadt. Der Parasit am Körper des Wirts.“

Damit hat „Erschlagt die Armen!“ das Zeug zum Skandalbuch – erst recht vor dem Hintergrund der aktuellen Asylkrise. Tatsächlich sorgte der im französischen Original 2011 erschienene Roman bereits für Furore und kostete die Autorin Shumona Sinha den Job – als Übersetzerin in der Asylbehörde. 

Sinha, geboren 1973 in Kalkutta und seit 2001 in Frankreich lebend, mutmaßte damals über die Gründe, der Behördenleitung habe nicht gepaßt, daß eine „kleine Angestellte, eine Dolmetscherin, die man nicht um ihre Meinung bittet, von der man erwartet, daß sie von einer Sprache in die andere übersetzt und sonst das Maul hält, daß diese unsichtbare Person ihr System kommentiert, kritisiert und seine Absurditäten enthüllt“.

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2015, gebunden, 128 Seiten, 18 Euro