© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

„Freiwild für Aggressionen“
Gewalt gegen Polizisten: Gewerkschaftschef Wendt beklagt Ansehensverlust des Staates und fordert mehr politischen Rückhalt
Christian Vollradt

In ihrem Buch zeichnet Tania Kambouri ein düsteres Bild vom Alltag im Streifendienst: Schon beim geringsten Anlaß rotten sich Personengruppen zusammen, pöbeln und werden gewalttätig. Vor allem muslimische Migranten würden oft keinerlei Respekt vor den Beamten haben. Ist dies wirklich ein weitverbreitetes Phänomen?

Wendt: Die Kollegin beschreibt einen wichtigen Teil der Wirklichkeit, der von interessierter Seite leider immer wieder verharmlost, relativiert oder komplett ausgeblendet wird. Die beschriebenen Phänomene sind nicht örtlich festzumachen, etwa im Ruhrgebiet, wo Frau Kambouri Dienst macht. Das, was sie beschreibt, ist insbesondere in den großstädtischen Milieus anzutreffen. In den verbreiteten Stellungnahmen dazu melden sich vor allem diejenigen zu Wort, die positive Erfahrungen mit Muslimen gemacht haben, damit wird der Versuch unternommen, die Schilderungen als falsch darzustellen, das ist die häufig anzutreffende Reaktion des politischen Mainstreams. Ich kann nur feststellen, daß Frau Kambouri mit diesen Aussagen sehr professionell umgeht; in der Sendung „Maischberger“ hat sie trotz der absurden Attacken anderer Teilnehmer einen ausgesprochen gelassenen und souveränen Eindruck gemacht.

Teilen Sie die Einschätzung der jungen Kollegin, daß viele Polizisten sich nicht trauten, diese Mißstände beim Namen zu nennen – aus Angst, als „rechts“ oder ausländerfeindlich zu gelten?

Wendt: Selbstverständlich ist das so. Man stelle sich vor, ein Kollege ohne Migrationshintergrund hätte einen solchen Leserbrief und ein solches Buch geschrieben, der könnte seine berufliche Zukunft an den Nagel hängen. Das ist doch auch der Grund, warum so viele Erfahrungen der Praktiker nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Regelmäßig sind es doch die Gewerkschaften in der Polizei, die Mißstände oder Fehlentwicklungen aufdecken. Die politische Führung wird nur mit harmlosen Verlautbarungen und relativierenden Zahlenspielereien gefüttert; entsprechend sind dann auch die Äußerungen, die von dort kommen und diejenigen Polizistinnen und Polizisten, die im täglichen Einsatz ganz andere Dinge erleben, resignieren lassen.

Fehlt es an Rückhalt durch die politische Führung?

Wendt: Politiker interessieren sich regelmäßig dann für die Polizei, wenn es darum geht, eine neu gebaute Wache einzuweihen, die Pferde der Reiterstaffel zu streicheln oder bei Vereidigungsfeiern Reden zu halten. Aber wenn es die Parteiräson gebietet, fallen sie hemmungslos über die Beamtinnen und Beamten her. Jüngstes Beispiel ist der Berliner Regierende Bürgermeister Müller, der die Berliner Polizei öffentlich beschimpfte, weil sie abzuschiebende Kinder aus der Schule abgeholt hatte, was seit Jahren geübte und bewährte Praxis ist. Ein absolutes Unding, denn die Kolleginnen und Kollegen, die das machen, sind gesondert geschult und gehen sehr behutsam vor, aber wenn der Mainstream das verlangt, fallen Politiker hemmungslos über die eigene Polizei her, das ist die Realität.

Was ist Ihrer Meinung nach notwendig, um die wachsende Gewalt gegenüber Polizisten effektiv zu bekämpfen?

Wendt: Dieses Thema ist viel zu komplex, als daß es in einer kurzen Antwort ginge. Selbstverständlich müssen Schutzausstattungen optimiert werden, der Einsatz nicht tödlicher Distanzwaffen im Streifendienst realisiert und die Polizei insgesamt verjüngt und verstärkt werden, aber das ist nur ein Teil dessen, was notwendig ist. Es geht nicht allein um Gewalt gegen die Polizei, sondern um einen allgemeinen Autoritätsverlust des Staates, mit der Folge, daß öffentlich Beschäftigte überall zum Freiwild für Aggressionen geworden sind. In den Schulen, Finanzämtern, Gerichten, Arbeitsagenturen und in allen anderen Behörden mit Publikumsverkehr sind unsere Kolleginnen und Kollegen teilweise tödlichen Attacken ausgesetzt. Das ist eine der Folgen des sogenannten „schlanken Staats“, der jahrelang propagiert wurde, als man das Personal gleich hunderttausendfach gestrichen und als „Kostenträger“ verunglimpft hat.  Wo der Staat nicht mehr mit Menschen sichtbar ist, ist er schwach und wirkt hilflos und handlungsunfähig. Langsam dämmert es einigen Regierungen, daß mehr Personal her muß.






Rainer Wendt ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft.

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