© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

In den existentiellen Ruin getrieben
Gesellschaftskritik: Dem US-Schriftsteller Arthur Miller zum hundertsten Geburtstag
Silke Lührmann

In Arthur Millers bekanntestem Bühnenwerk fristet er als Handlungsreisender ein kaum beneidenswertes Dasein, kulturgeschichtlich gehört der Salesman zu den Ikonen und Idolen des 20. Jahrhunderts: ein kapitalistischer Held der Arbeit, Zerrbild und Verkörperung des amerikanischen Traums zugleich. Eine Wirtschaftsform, deren kurz- wie langfristiges Überleben von ihrer Fähigkeit abhängt, in den zu Verbrauchern degradierten Marktteilnehmern eine unstillbare Gier auf immer mehr zu stimulieren, hat seine spezielle Begabung – (sich) verkaufen zu können – zur Definition des Erfolgsmenschen überhaupt stilisiert.

Dieser strahlende Siegertyp spielt bei Miller allenfalls eine Nebenrolle als Dave Singleman, das unerreichbare Ideal, an dessen Triumphen der Protagonist Willy Loman sein eigenes Versagen messen lassen muß. Zum dramaturgischen Sujet wird der Handlungsreisende erst durch seinen Tod, der ihm eine gewisse tragische Würde und dem mit einem Pulitzerpreis gekrönten Stück seinen Titel verleiht.

Aufstieg und Niedergang des US-Kapitalismus

In der Bundesrepublik, der ihr Wirtschaftswunder erst noch bevorstand, wurde dieser Warnruf aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten am 26. April 1950 in den Kammerspielen Düsseldorf uraufgeführt. Die Verfilmung mit Dustin Hoffman in der Titelrolle erfolgte 1985 unter der Regie von Volker Schlöndorff, den die Lektüre des Stückes nach eigenem Bekenntnis „zu Tränen gerührt“ hatte.

Für Millers eigenen Lebensweg, der sich – nicht nur zu Zeiten seiner zweiten Ehe mit Marilyn Monroe von 1956 bis 1961 – großenteils im grellen Rampenlicht der Medienaufmerksamkeit abspielte, war der Aufstieg und Niedergang des US-Kapitalismus auf ungewöhnlich dramatische Weise weichenstellend. Er kam vor genau hundert Jahren, am 17. Oktober 1915, als zweites von drei Kindern jüdischer Einwanderer in New York zur Welt und starb vor gut zehn Jahren, am 10. Februar 2005, in der verschlafenen Kleinstadt Roxbury im Bundesstaat Connecticut, in der er bereits seit 1947 einen Rückzugsort fernab der Hexenkessel und Hexenjagden des Kulturbetriebs gesucht und wohl auch gefunden hatte, als eine der gefeiertsten Persönlichkeiten des sogenannten amerikanischen Jahrhunderts. 

Der junge Arthur wuchs zunächst in sehr komfortablen Verhältnissen mitten in Manhattan auf. Sein Vater konnte kaum lesen oder schreiben, hatte es aber als Besitzer einer Kleiderfabrik mit rund vierhundert Angestellten zu einigem Wohlstand gebracht, den er beim Börsencrash von 1929 auf einen Schlag verlor. Als Jugendlicher, mittlerweile im Brooklyner Exil, verdingte Arthur sich morgens vor der Schule als Botenjunge für eine Bäckerei, nach dem Schulabschluß mit mittelprächtigen Noten arbeitete er in einem Ersatzteillager, um sich schließlich das Collegestudium an der Universität Michigan leisten zu können. Dort schrieb er Beiträge für die Studentenzeitung und feierte erste Erfolge als Bühnenautor. 

Dem Federal Theater Project – 1935 als eine von mehreren konzertierten Aktionen zur staatlichen Förderung brotloser Künste im Rahmen von Franklin D. Roosevelts „New Deal“ ins Leben gerufen – verdankte Miller eine Festanstellung als Stückeschreiber für 22,77 Dollar pro Woche, die direkt nach dem Studium den Grundstein für seine weitere Laufbahn legte. Seinem Talent verdankte er den kometenhaften Aufstieg, der ihn 1947 mit der Broadway-Premiere von „Alle meine Söhne“ unter die Elite der amerikanischen Theaterkultur katapultierte, die ihrerseits mit Autoren wie Eugene O’Neill und Tennessee Williams, Regisseuren wie Millers engem Freund Elia Kazan und grandiosen Schauspielern wie Marlon Brando ein Goldenes Zeitalter erlebte.

Mit dem „Tod eines Handlungsreisenden“ konnte Miller 1949 an diesen Erfolg nicht nur anknüpfen, sondern eine neue Richtung einschlagen: Während „Alle meine Söhne“ die Wunden des Zweiten Weltkriegs aufriß – an dem Miller aufgrund einer Sportverletzung aus Studentenzeiten nicht aktiv teilgenommen hatte –, setzte er sich nun mit den neuen gesellschaftlichen Realitäten der Nachkriegszeit auseinander. 

Wer sich freilich im Reich der Kalten Krieger als Kulturschaffender zur Sozialkritik aufschwang, geriet schnell in den Verdacht unamerikanischer Umtriebe. Entsprechend mußte Miller sich 1956 vor Joseph McCarthys berüchtigtem Senatsausschuß verantworten, dessen Praktiken er drei Jahre zuvor in seinem Stück über die Salemer „Hexenjagd“ von 1692 allegorisch angeprangert hatte. Für seine Weigerung, „Namen zu nennen“, wie Kazan es getan hatte, wurde Miller – der angab, zwar Versammlungen der Kommunistischen Partei besucht zu haben, ihr aber nie beigetreten zu sein –  mit einer Geldstrafe von fünfhundert Dollar oder dreißig Tagen Haft sowie dem Entzug seines Reisepasses bestraft und auf die Schwarze Liste der Unterhaltungsindustrie gesetzt. 

Das Urteil wurde 1958 aufgehoben, die Erfahrung blieb für Miller prägend, wie nicht zuletzt seine 1987 veröffentlichte Autobiographie „Zeitkurven“ deutlich macht. Er schrieb das Drehbuch für Monroes letzten Film „The Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“ (1961) sowie ein Bühnenstück, in dem er seine Ehe mit ihr verarbeitete („Nach dem Sündenfall“, 1964) – allzu kurz nach ihrem Tod, wie viele Kritiker befanden –, und übernahm von 1965 bis 1969 als erster Amerikaner den Vorsitz des internationalen Schriftstellerverbandes P.E.N. Seine späteren Stücke behandeln mit teilweise recht experimentellen Mitteln verschiedene zeitgeschichtliche Brennpunkte – von „Zwischenfall in Vichy“ (1964) über den Vietnamkrieg in „Der Preis“ (1968) und „Die große Depression“ (1980) bis zur Reichskristallnacht in „Scherben“ (1994) und Auschwitz in dem Fernsehspiel „Spiel um die Zeit“ (1980) –, kam jedoch nie mehr an die Erfolge aus den vierziger und fünfziger Jahren heran. 

Miller bekannte bereits damals, er spreche „nicht mit zeitgenössischem Akzent“. Sein großes Thema aber, das klägliche Scheitern des vom System in den existentiellen Ruin getriebenen Individuums, wurde wenige Jahre nach seinem Tod im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise aktueller denn je.