© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Das unsichtbare Band der Generationen
Bewältigung von Kindheitserfahrungen: Ralf Rothmann versucht auf einfühlsame Weise, die Kriegserlebnisse des Vaters zu verstehen
Felix Dirsch

Der Krieg hinterläßt in der Erinnerungskultur nachhaltige Spuren. So sind die in den 1950er und in den 1960er Jahren Geborenen noch häufig bereits in frühen Lebensjahren mit den Schicksalen ihrer Väter konfrontiert worden. Manche sprechen von „dämonischen Introjekten“ (Tilmann Moser). Die Verarbeitung dieser Erfahrungen ist auch für Ralf Rothmann wichtig, der dazu als Schriftsteller auf die Literatur zurückgreifen kann.

Sein Roman „Im Frühling sterben“ trägt autobiographische Züge. Die Rahmenhandlung verdeutlicht das. Rothmanns Vater ist schweigsam, ja apathisch, ein Alkoholiker. Seine Erlebnisse als junger Mann redet er sich nicht von der Seele, höchstens indirekt kommt ein wenig hervor. Memoiren will er keine schreiben. Er hofft wohl auf die literarischen Begabungen des Sohnes, und er wäre wohl auch nicht enttäuscht worden, hätte er Gelegenheit gehabt, den Text zu lesen.

Rund ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod liegt nun vor, was der Sohn aus den kärglichen Hinweisen gemacht hat. Die Handlung ist schnell erzählt: Die achtzehnjährigen Freunde Walter und Friedrich („Fiete“) absolvieren in Norddeutschland gegen Ende des Krieges ihre Lehre als Melker. Während eines Festes werden sie für den Fronteinsatz rekrutiert. Man schickt sie zum Einsatz nach Ungarn, wo Walter Dienste als Fahrer leistet. Auch Fiete wird dort militärisch ausgebildet. Dramatischer Höhepunkt ist dessen Flucht in angetrunkenem Zustand. Fiete will heim zu seiner Freundin. Nachdem er gefaßt worden ist, wird er erschossen. Walter gehört zum Exekutionskommando. Ein wahrlich traumatisches Erlebnis! Lakonisch fällt der Kommentar zu diesem Ereignis aus. Walter schildert die Szene so: Jeder der Schützen hat eine Platzpatrone im Magazin, so daß er später hoffen kann, nicht der Mörder des Kameraden zu sein. Auf diese Weise soll ein letzter Rest von Gemeinschaftsgeist aufrechterhalten werden. Keiner der Schützen kann dem Schuldigwerden restlos entgehen.

Rothmann ist ein großer Roman gelungen. Alles das, was die Welt im Frühjahr 1945 so sehr prägt, wird dem Leser von einem Nachgeborenen vor Augen geführt: Gleich einem Brennspiegel werden die existentiell wichtigen Momente eines jeden Lebens auf die Situation zugeschnitten, in der sich die beiden Freunde befinden: Schrecken, Tod, Hoffnung, Liebe oder das Träumen von ihr, Kameradschaft, Treue, Verrat und vieles Derartige mehr. Besonders eindrucksvoll sind die Bilder vom Lebenshunger hinter der Front im Lichte des bevorstehenden Untergangs. Das Leben intensiviert und verdichtet sich dramatisch angesichts seiner (im Angesicht des Todes) vermuteten Verkürzung.

Unzählige Male ist das Verhältnis zwischen den Kriegsteilnehmern und ihren Nachkommen beschrieben worden. In den späten sechziger Jahren wird es gar zum Politikum. Viele private Konflikte insbesondere zwischen Vätern und Söhnen werden in der Öffentlichkeit ausgetragen und auf die Bühne der Vergangenheitsbewältigung gehievt. Selten wird das unsichtbare und zerbrechliche Band zwischen Erlebnisgeneration und Spätgeborenen so feinfühlig beschrieben wie bei dem 1953 geborenen Post-Achtundsechziger Rothmann.

Im Roman wird dies an einer Stelle schön ausgedrückt, als Fiete sich anläßlich eines Besuches Walters in der Zelle auf seinen Vater, der Arzt ist, bezieht: „Und einmal, als ich meine Träume erwähnte, sagte er mir, daß es ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, auch der Samen- und Eizellen also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet zu werden, macht etwas mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen. Und später, wie liebevoll behütet sie auch heranwachsen mögen, haben sie panische Angst davor, gekränkt, geschlagen oder erschossen zu werden. Jedenfalls im Unterbewußtsein, in den Träumen.“ Rothmann versucht, den Vater zu verstehen. Es handelt sich allerdings auch um eine eigene Befreiung. Ob sich der Nebel, der sich um sein Verhältnis zum Vater legt, verschwindet, sei dahingestellt.

Die Eindrücke, die der Verfasser schildert, wechseln schnell. Von intensiven Gedanken, Gerüchen, Geräuschen und Bildern wird der Leser regelrecht überflutet, aber auch von Szenen der Menschlichkeit in einer höchst unmenschlichen Epoche. Walter hat im Gegensatz zu Fiete Glück: Er überlebt, gerät in Kriegsgefangenschaft, wird aber bald entlassen. Sein größter Wunsch ist, wieder als Melker tätig zu werden. Seiner Freundin macht er einen Heiratsantrag.

Leid, das Menschen lebenslang in sich tragen

Im Epilog schildert der Erzähler einen Besuch am Grab der Eltern an einem Wintertag. Der Wind weht still. Gemeint ist wohl auch die Erinnerung an einen bestimmten Lebensabschnitt, der den Erzähler fortdauernd prägt.

Man kann das Buch als einen Antikriegsroman interpretieren. Anders als etwa Erich Maria Remarques bekannte Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg – wenn dieser Vergleich nicht zu übertrieben erscheint – kommt Rothmanns Text jedoch als stiller daher. Selten findet man in der Literatur freilich eine so leise und sensible Wortwahl, die doch so viel Leid beschreibt, das Menschen lebenslang in sich tragen.

Der Autor lehnt den Rummel um den Deutschen Buchpreis ab. Daher hat er sein Werk von den einschlägigen Listen streichen lassen. Ansonsten wäre er sicherlich Anwärter auf das Preisgeld. An den Bestsellerqualitäten ändert diese Entscheidung ohnehin nichts.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015, gebunden, 234 Seiten, 19,95 Euro