© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Der Flaneur
Landeskunde im Vorbeifahren
Josef Gottfried

Was wird hier wohl anders sein, im Eurocity zwischen Prag und Hamburg, über Dresden und Berlin? Nun, im Speisewagen würde ich mich nicht wundern, auch nicht unangenehm berührt fühlen, wenn einer der Gäste sich nach dem Essen genüßlich eine Zigarette anzündete. Natürlich gilt auch hier das Rauchverbot, aber das feeling ist ein anderes als in der Businesstyp- und ReferentInnen-Rohrpost der Deutschen Bahn.

Es paßt besser zum europäischen Klang der Städte, die diese Bahn hier anfährt, hier meint man doch noch, in etwas Besonderem zu sein. Und das auf eine Art, die selbst die erste Klasse der Deutschen Bahn nicht transportieren kann.

Mir am Tisch gegenüber liest ein Typ mit Viertage-Bart, ausgewachsener, braunhaariger Frisur und kleiner Lesebrille launisch die Zeitung. Als Jugendlicher muß er viel Sport getrieben haben, jetzt, in seinen Vierzigern, bestimmt schon lange nicht mehr. 

Tschechischer Akzent, auch der kalte Tabak­atem wirkt in diesem Gesamtbild attraktiv.

Augen und Wangen berichten von seinem tschechischen Akzent, auch der kalte Tabakatem, er war nur mal kurz auf der Zugtoilette gewesen, wirkt in diesem Gesamtbild attraktiv. Hier fahren keine Businesstypen mit, sondern Geschäftsleute, keine ReferentInnen, sondern Intellektuelle. Menschen mit ernsten Anliegen.

Nach Berlin hatte sich das schon etwas verwässert. Hier gewann dann die mollige deutsche Mittdreißigerin an Präsenz, mit Turnschuhen, Füßlingen, Haut und dann Jeans an ihren Beinen, zumal sie ihren niedlich gezüchteten Dalmatiner mit Gebäck für Hunde fütterte. Als sie bemerkte, daß ich den Hund anstarrte, lächelte sie mir gelangweilt zu in der Erwartung, ich würde das Tier so niedlich finden wie ihre Freunde. Dem war aber nicht so, zwischen uns entstand keine Zuneigung.

Der launische Typ hatte seine Zeitung liegengelassen, so daß ich nicht umhinkam, der aktuellen Schlagzeilen gewahr zu werden. „Osteuropa“, dachte ich mir. Und dann noch mal: „Osteuropa.“