© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

„Wessi, morgen bist du tot!“
25 Jahre Einheit ohne pathetische Revolutions- und Freiheitsromantik: Harald Martenstein und Tom Peuckerts kontrafaktische Wendeerzählung nimmt amüsant deutsch-deutsche Annäherungen und Brüche zwischen zwei Gesellschaftsformen aufs Korn und bescheinigt indirekt, wie ähnlich diese doch sind
Thorsten Hinz

Angenommen, SED-Politbüromitglied Günter Schabowski hätte in der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 statt der Maueröffnung den weltweit größten Erdölfund vor der Küste der DDR, in Warnemünde, verkündet. Wie wäre es weitergegangen? Die Publizisten Harald Martenstein (West) und Tom Peuckert (Ost) versuchen in ihrem Roman „Schwarzes Gold aus Warnemünde“, das Kontrafaktische zu denken.

Also, der taumelnde, vom Staatsvolk aufgegebene Problemstaat ist schlagartig das reichste Land der Erde geworden, ein Kuwait des Nordens. Gemessen an der neuen Härte der DDR-Mark nimmt die D-Mark sich wie Kerzenwachs aus. Der Revolution kommen schlagartig die Revolutionäre abhanden, weil die Leute nun Bali, Florida und die Mittelmeerküste erkunden. Sie kehren alle wieder zurück, weil niemand ein Land verläßt, in dem bedingungslos ein hohes Grundeinkommen gezahlt wird. Die Mauer leistet von jetzt ab gute Dienste gegen die ungewollte Zuwanderung. Gegenüber den Übersiedlern aus der Bundesrepublik gibt man sich zunächst noch großzügig, doch nachdem die Bevölkerungszahl von 17 auf 21 Millionen hochgeschnellt ist, zieht die DDR die Notbremse.

Das verarmte West-Berlin wird zum Macau der DDR. Den Ku’damm säumen Puffs und Spielcasinos, in denen die Ossis allabendlich die Puppen tanzen lassen. Der schmählich aus dem Amt geschiedene Karl-Theodor von und zu Guttenberg kehrt als DDR-Wirtschaftsminister auf die politische Bühne zurück. Sein Kabinettskollege Gregor Gysi hegt die Kultur und sorgt dafür, daß Theaterregisseure in die Provinz verbannt statt ins Gefängnis gesteckt werden. 

Von Angela Merkel weiß man nichts Konkretes, sie sei aus politischen Gründen verhaftet worden, heißt es, doch nun sei sie in den USA, wo sie inkognito als Physikerin arbeite. Der freie (West-)Journalist Harald Martenstein ist froh, sich während der Urlaubszeit auf Hiddensee ein Zubrot als Broilerverkäufer verdienen zu dürfen. Das fällt ihm nicht leicht, denn offiziell gilt noch immer das Motto: „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“ Von den urlaubenden Werktätigen muß er sich deshalb Sprüche anhören wie: „Wessi, morgen bist du tot!“ Aber das ist nicht böse, sondern als freundlicher Ansporn gemeint!

An der Staatsform muß nicht viel geändert werden, denn die Menschen sind mit ihrem Leben zufrieden. Die marxistisch-leninistische Ideologie behält ihren formalen Rang, ohne im Alltag eine große Rolle zu spielen. Im Gegenteil, überzeugte Kommunisten wirken nur störend, weshalb Sahra Wagenknecht sich aus der Politik verabschiedet hat und ihr Geld als Yoga-Lehrerin verdient.

Die Menschen sind in fünf Kategorien – von absolut linientreu bis absolut feindlich – eingeteilt. Zur Kategorie fünf gehören nur wenige. Wenn sie Rentner oder zu Sozialfällen werden, überstellt man sie in preiswerte chinesische Altersheime. Diese ewigen Nörgler sind nach allgemeiner Auffassung selber schuld an ihrem Schicksal.

Von den beiden Autoren ist Harald Martenstein bekannt durch seine Zeit-Kolumnen. Er gehört zur Handvoll Journalisten in den deutschen „Qualitätsmedien“, deren Artikel und Glossen man ohne Vorbehalt und sogar mit Gewinn zu Ende lesen kann, und das unabhängig davon, ob man seinen Standpunkt teilt. Er versteht sich auf die Kunst des Floretts und hat schon so manchen verrückten Diskurs ad absurdum geführt, indem er seine Absurditäten noch ein wenig zuspitzte und in die Zukunft verlängerte, so daß sie auch den Verblendeten ins Auge stachen. Dafür wird er geschätzt. Hier versucht er sich gemeinsam mit seinem Kollegen Peuckert an der großen Form und hat anläßlich des 25. Einheitsjubiläums die pathetische Revolutions- und Freiheitsromantik aufgemischt. Das ist ganz recht!

Es gibt Kabinettstücke, bei denen man Tränen lacht. So erläutert die stets fröhliche Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt, die gemeinsam mit Kai Pflaume die Fernsehshow „Der Beste des Dschungels“ moderiert, den „gesellschaftlich-emanzipatorischen Faktor“ der Sendung und den Unterschied zum westlichen „Dschungel-König“-Pendant. Wenn ein Kandidat im kubanischen Dschungel in einem Wasserloch mit giftigen Fröschen steht und nach den Beschlüssen des letzten SED-Parteitags befragt wird, dann sei das eben mehr als Unterhaltung, nämlich politische Bildung, und die Zuschauer könnten miterleben, wie „eine sozialistische Persönlichkeit reift“. Kandidaten, die zuvor politisch unliebsam aufgefallen seien, erhielten die Gelegenheit, sich durch besonderen Einsatz zu rehabilitieren und „dem Staat etwas zurückzugeben“. 

Mit leichter Hand wird der Ost-Jargon auf Westniveau gebracht beziehungsweise der westliche Medienjargon auf DDR-Verhältnisse übertragen. Damit bestätigt er zudem indirekt die alte Konvergenztheorie über die Annäherung des westlichen und des östlichen Systems. Martensteins und Peuckerts Buch erinnert an Thomas Brussigs Satire „Das gibt’s in keinem Russenfilm“, ohne kompositorisch an sie heranzureichen. Es handelt sich eher um eine amüsante Slapstick-Abfolge als um einen wirklichen Roman. Dazu fehlt es an einem überzeugenden Handlungs- und Spannungsbogen. 

Die Behauptung übrigens, „niemand habe in der DDR nach Öl gesucht“, ist nachweislich falsch. Ein Bohrturm in der Nähe seines vorpommerschen Heimatdorfes in den 1960er Jahren gehört zu den frühen Kindheitserinnerungen des Rezensenten. Den Bohrungen nach Erdöl galt das allerhöchste Interesse im Staat, und diesem verdankt sich auch der Besuch und der frühkindliche Anblick Walter Ulbrichts und seiner Frau. Die Bohrarbeiter wurden außergewöhnlich gut bezahlt und ihre Entlohnung über das dörfliche Postamt abgewickelt, das sich gegenüber dem Elternhaus befand. Die Postfrau hatte drei heiratsfähige Töchter, die Lotti, die Hanni und die Inge, und ging im Dorf mit dem Spruch um: „Een Bohrer müßt’ man hebben! Dat wier wat! De sünd riek!“ (Einen Bohrer müßte man haben! Das wär’ was! Die sind reich!) Tatsächlich gelang es ihr, der mittleren Tochter einen Bohrer fürs Leben zu vermitteln!

Nicht bloß im kontrafaktischen Roman, auch in der wirklichen DDR ging es manchmal lustig und lebensnah zu.

Harald Martenstein, Tom Peuckert: Schwarzes Gold aus Warnemünde. Roman.  Aufbau Verlag, Berlin 2015, gebunden, 256 Seiten, 19,95 Euro