© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Weichzeichnungen eines Massenmörders
Die Stalin-Biographie des russischen Historikers Oleg Chlewnjuk verspricht viel, kann aber kaum etwas Wesentliches zum sowjetischen Diktator beitragen
Markus Brandstetter

Jedes Jahr erscheint nun mindestens eine neue Stalin-Biographie, und auch beim Schrifttum zu Hitler und Mao Tse-tung tut sich ständig etwas. Die drei größten Massenmörder der neueren Geschichte verlieren nie ihre Faszination. Wissenschaftler, Biographen und Leser können von Folter, Mord und Vernichtung und den Menschen, die all das anordneten, anscheinend nie genug bekommen.

Der Amerikaner Stephen Kotkin hat gerade den ersten Teil seiner auf drei Bände und 1.500 Seiten angelegten Stalin-Biographie vorgelegt. Da mitten hinein erscheint jetzt Oleg Chlewnjuks Stalin-Biographie, von der der Verlag behauptet, daß sie durch die Auswertung „bisher unbekannter Dokumente“ aus sowjetischen Archiven einen neuen Blick auf den Diktator und seine Herrschaft eröffnet. Oleg Chlewnjuk wäre grundsätzlich der richtige Mann für so ein Buch, denn er ist Historiker im Staatsarchiv der Russischen Föderation, wo die wesentlichen Quellen der UdSSR lagern. 

Jede Biographie Stalins muß drei Fragen beantworten. Erstens: Wie konnte ein gewöhnlicher Verbrecher aus einem entlegenen Winkel des Zarenreichs, der bis zu seinem neunten Lebensjahr kein Russisch gesprochen, nie eine höhere Schule abgeschlossen und nichts zur Lehre des Marxismus-Leninismus beigetragen hatte, überhaupt bis in die Spitze des Staates vorstoßen? Zweitens: Wie konnte sich dieser Mann gegen den massiven Widerstand von zig Männern, die gebildeter, intelligenter und beim Volk beliebter waren als er, die besser reden, schreiben und analysieren konnten, so vollständig durchsetzen, daß er zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution ganz allein an der Spitze von Partei, Regierung und Staat stand? Schließlich: Welche Auswirkungen hatte diese Alleinherrschaft auf die Rolle Rußlands im Zweiten Weltkrieg, die Neuordnung Europas danach, und was ist das Vermächtnis der Ära Stalin für die Sowjetunion nach Stalins Tod? Chlewnjuk kann keine einzige dieser Fragen befriedigend beantworten.

Fangen wir mit der ersten Phase dieses Aufstiegs an, der 1922, als Lenin ihn zum Generalsekretär der Partei ernennt, beginnt und mit dem Parteiausschluß Trotzkis auf dem 15. Parteikongreß 1927 endet. In diesen fünf Jahren bringt Stalin die Partei unter seine Gewalt, besetzt alle Schlüsselpositionen in Zentralkomitee und Politbüro mit Funktionären aus der zweiten Reihe, die ihren Aufstieg allein ihm verdanken, entmachtet die Garde der alten Bolschewiken und läßt Leo Trotzki, seinen ärgsten Widersacher, erst aus der Partei ausschließen und dann verbannen. 

Bei Chlewnjuk liest sich diese Entwicklung ungefähr so, wie man den Aufstieg eines gewieften, etwas groben, sonst aber vollkommen normalen amerikanischen Provinzpolitikers vom Senator zum Präsidenten beschreiben würde. 

So war es keineswegs. Das, was sich in den zwanziger Jahren in der UdSSR abgespielt hat, war die Übernahme der Regierung des zweitwichtigsten Landes der Erde durch einen psychopathischen Massenmörder, der sich nach außen hin als Nachfolger Lenins, bodenständiger Bolschewik, effizienter Administrator und Vater des Vaterlandes gab, während er in Wahrheit ein sadistischer Bürokrat war, der zusammen mit einer Zehn-Mann-Clique von ihm total abhängiger Apparatschiks im ganzen Land schaltete und waltete, wie er wollte. 

Zwischen 1936 und 1939 hat Stalin in einer Phase, die man heute den Großen Terror nennt und die in den Moskauer Schauprozessen kulminierte, seine letzten echten oder vermeintlichen Gegner in Partei, Staat und Armee verhaften und 700.000 davon umbringen lassen. Diesen Massenmord, der einzig in der chinesischen Kulturrevolution eine Parallele hat, erklärt Chlewnjuk mit „zunehmenden internationalen Spannungen“, dem Aufstieg Hitlers, dem Vorstoß der Japaner in die Mandschurei und dem Spanischen Bürgerkrieg, also mit exogenen Faktoren. Das ist falsch. Der Grund dafür war einzig Stalins unbedingter Wille, irgendwann ganz allein, ohne Wahlen, Parlament, Partei und Politbüro herrschen zu können. 

Ohnehin fällt auf, wie sehr der Autor Stalins Handeln entweder für nachvollziehbar hält oder verharmlost oder – sind die Katastrophen groß und die Opfer zahlreich – schlicht unter den Tisch fallen läßt. Harte Zahlen, aber auch Fallgeschichten und insbesondere den Blickwinkel der Opfer sucht der Leser vergebens. Von den sechs bis acht Millionen Menschen, die während der Hungersnot von 1932/33 starben, den exakt 292.513 polnischen Staatsbürgern (Timothy Snyder), die Stalin nach der Teilung Polens in den Gulag transportieren ließ, und der Gesamtzahl der unter Stalin Ermordeten, Hingerichteten und Gestorbenen (geschätzt über 20 Millionen Menschen) liest man in diesem Buch wenig bis gar nichts.

Dafür erfährt der Leser viel darüber, daß Stalin angeblich ein Leben der Lektüre und Kontemplation führte, überraschenderweise kein guter Ehemann war, im Russischen „himmelschreiende stilistische Fehler machte“ und komischerweise nur ein Werk von Tolstoi („Auferstehung“) besaß. Das sind nette Vignetten, aber keine neuen Erkenntnisse. Die vielen unbekannten Dokumente, die Chlewnjuk in den Archiven aufgespürt hat, haben also nicht viel gebracht.

Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2015, gebunden, 592 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro