© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Wir brauchen kein Heer von geringqualifizierten Mindestlöhnern
Symposium zu Zuwanderung: Der Bayerische Handwerkstag und Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn zweifeln an der offiziellen CDU-These „Wir schaffen das“
Wolfhard H. A. Schmid

Die Bewältigung der Flüchtlingsströme ist ein Akt humanitärer Verantwortung, zugleich auch ein politischer Gestaltungsauftrag. Es ist gut, daß die Politik jetzt auf allen Ebenen diesen Prozeß aufnimmt und Hindernisse aus dem Weg räumt“, sagte Hans Peter Wollseifer, der voriges Jahr vom Kölner Handwerkskammer-Chef zum Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) aufstieg.

Auch bezüglich der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP, JF 43/15) ist der 60jährige Hürther Malermeister voll auf Linie der Bundesregierung: „TTIP ist ein wirtschaftlich Erfolg versprechendes Projekt. Darüber hinaus ist es von strategischer und geopolitischer Relevanz“, verkündete Wollseifer. Selbst die umstrittenen geheimen Schiedsgerichte (ISDS) sind für den Verbandsfunktionär, dessen wichtigste Auslandserfahrung die Fassadeninstandsetzung des Deutschen Konsulats in Kabul war, unverzichtbare „bewährte Instrumente“.

Vermehrte Zuwanderung in unsere Sozialsysteme?

Die bayerischen Standesvertreter warnen hingegen vor einem Ende der Meisterausbildung durch Formulierungen wie „diskriminierende Qualifizierungsanforderung an die Berufsqualifikation“. Es sei „von existentieller Bedeutung“, daß TTIP nicht am Meistervorbehalt rüttelt, erklärte der Präsident des Bayerischen Handwerkstages (BHT), Georg Schlagbauer. Der 2004 von Rot-Grün durchgedrückte Wegfall der Meisterpflicht in 53 Handwerken habe dazu geführt, daß wertvolles Know-how verlorenging, in diesen Berufen kaum mehr ausgebildet werde und der Nachwuchs wegbreche, so der CSU-Politiker.

Auch beim Thema Migration kommen aus München andere Töne. Während Wollseifer sich im Deutschen Handwerksblatt erstaunt zeigte, daß „derart viele Menschen so schnell zu uns kommen“, und behauptete, das Handwerk könne „diese jungen Flüchtlinge zügig auf das Berufsleben“ vorbereiten, zeigt sich der BHT weniger optimistisch. Der Zustrom von Flüchtlingen „bringt gewaltige Herausforderungen mit sich“, sagte vorige Woche BHT-Hauptgeschäftsführer Lothar Semper in der Müncher Handwerkskammer bei einem Gemeinschaftssymposium mit dem Ifo-Institut zum Thema Zuwanderung und Fachkräftesicherung.

„Nur wenn die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt langfristig eine Chance haben, ist der Zustrom der Menschen für unser Land auch finanziell verkraftbar“, so Semper. „Wir wollen qualifizierte Fachkräfte“, das Handwerk brauche kein Heer von geringqualifizierten Mindestlöhnern. Laut einer BHT-Umfrage unter Handwerksbetrieben in Bayern konnten 5.000 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. 16 Prozent der Handwerksbetriebe benötigten dringend Arbeitskräfte, 29 Prozent würden gerne mehr Leute einstellen. „Eine Ausbildung im dualen System“ müsse daher bei der Qualifizierung junger Flüchtlinge Vorrang haben, betonte Semper.

Berufskenntnisse müßten frühzeitig erfaßt und durch Nachschulungen ergänzt werden. „Nur so kann verhindert werden, daß ein Großteil der Flüchtlinge in erster Linie in unsere Sozialsysteme zuwandert“, betonte der BHT-Hauptgeschäftsführer. Sprachförderung und Bildung seien „der Schlüssel zur Integration“. Semper verlangte bereits im ersten Jahr des Aufenthalts der Flüchtlinge einen intensiven Deutschkurs und im zweiten Jahr dann die Schaffung einer Basis für die Berufsorientierung.

Doch das dürfte schwierig werden: Schon in den meisten EU-Staaten und erst recht in den Asylherkunftsländern werde das duale System (Ausbildung im Betrieb in Verbindung mit der Berufsschule) nicht praktiziert. Außerdem zeige die Erfahrung, daß es schon bei Deutschen 25 Prozent Ausbildungsabbrecher gibt, bei Immigranten seien es im Schnitt 75 Prozent. Selbst bei den ausgewählten Lehrlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, die im Herbst 2013 ihre Ausbildung in Bayern begonnen hatten, haben 70 Prozent ihre Lehre inzwischen ohne Abschluß schon wieder beendet. Für die über 25jährigen sei eine Teilqualifikation durch Nachschulung erforderlich. Zudem müsse den arbeitswilligen Einwanderern klargemacht werden, daß Ausbildung langfristig die bessere Lösung sei, als kurzfristig Geld zu verdienen, so Semper.

Hoher Andrang ins unterste Segment des Arbeitsmarktes

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn zweifelte in seinem Vortrag zum Thema „Demographisches Defizit: Migration als Lösung?“ noch mehr an der bisherigen Willkommenskultur. Während Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) den Mindestlohn von 8,50 Euro bislang nur für „junge Flüchtlinge in Betriebspraktika“ in Frage stellt, ist für Sinn diese Gleichmacherei und „staatliche Einmischung in die Autonomie der Tarifpartner“ angesichts der Asylzuwanderung nicht haltbar. Derzeit seien 9,5 Prozent der Arbeitnehmer im Westen und 20 Prozent im Osten auf Mindestlohnbasis beschäftigt. Und nur die gute Konjunktur habe verhindert, daß es nicht zu spürbaren Arbeitsplatzverlusten gekommen sei.

Laut Zahlen des Instituts für Arbeitsforschung (IAB) hätten 22 Prozent der Immigranten aus den Kriegsgebieten keinen Schulabschluß. „Mit denen können sie nicht ohne weiteres eine Ausbildung anfangen. Das sind Arbeitskräfte, die geringqualifiziert sind und in das unterste Segment des Arbeitsmarktes hineindrängen, wo wir den Mindestlohn haben“, sagte Sinn. Der Staat müsse mit Lohnzuschüssen das Existenzminimum garantieren. Um „eine neue Reservearmee der Arbeitslosigkeit“ zu verhindern, führe an einer neuen „Agenda 2020“ à la Schröder, die den Arbeitsmarkt flexibel mache „für Aufnahme der vielen geringqualifizierten Menschen, die jetzt kommen“, kein Weg vorbei. Jeder, der arbeiten will, müsse arbeiten können.

Doch eigentlich brauche Deutschland aus demographischen Gründen qualifizierte und „in den Arbeitsprozeß eingebundene“ Immigranten, um die heutige Rentenbasis zu erhalten. Für eine bessere Familienpolitik sei es hingegen inzwischen zu spät. Für wirklich integrationsfähig hält Sinn nur einen Teil der „großen Zahl der Kommenden“.

Er plädierte daher für das kanadische Punktesystem für Immigranten. Aktuell gehe es aber darum, die Schengen- oder die nationalen Grenzen wieder zu sichern, um die Wiedereinrichtung des Dublinverfahrens und „Hot Spots“ in Erstaufnahmeländern. Einig war sich Sinn mit dem BHT in der sofortigen Schulung in Sprache und Beruf. Darüber hinaus forderte der Ifo-Chef ein Punktesystem für abgelehnte Asylbewerber sowie eine „aktivierende Sozialhilfe“ statt des Mindestlohns.

Franz Josef Pschierer, CSU-Staatssekretär im bayerischen Wirtschaftsministerium, appellierte an Handwerk und Wirtschaft, bei der Qualifikationsfeststellung in den Erstaufnahmezentren zu helfen sowie Geld für Sprachförderung und andere Anreizsysteme zur Verfügung zu stellen. Und im Gegensatz zur Bundesregierung offenbarte sich der frühere Handwerksblatt-Redakteur auch als Mindestlohnkritiker – was bei einem Teil der anwesenden Handwerksmeistern für Gelächter sorgte, hatte doch die in Berlin mitregierende CSU dem SPD-Mindestlohnprojekt zugestimmt.

Für Verärgerung sorgte auch, daß Regina Jordan, Abteilungspräsidentin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ihre zugesagte Teilnahme ohne Angabe von Gründen einen Tag zuvor abgesagt hatte. Und der scheidende IG-Metall-Chef Detlef Wetzel reagierte sogar in seiner Abschiedsrede auf Sinns Kritik am Mindestlohn: „Wir werden nicht zulassen, daß die Flüchtlinge zum neuen ‘Argument’ für Lohndumping werden.“ Und Wetzels SPD-Parteichef, Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, wurde auf dem Gewerkschaftstag in Frankfurt am Main noch deutlicher: „Wenn wir die Armen, die zu uns kommen, gegen die Armen, die da sind, ausspielen, dann legen wir sozialen Sprengstoff in unser Land.“ 

Aktuelle Ifo-Studien zur Migrationspolitik in CESifo Economic Studies (Vol.61/15):  cesifo.oxfordjournals.org