© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Drahtseilakt in 400 Meter Höhe
Kino I: „The Walk“ von Robert Zemeckis
Wolfgang Paul

Wahre, allgemein bekannte Geschichten im Film haben einen Nachteil: man weiß, wie sie ausgehen. Also muß ein Regisseur sein Publikum so mitreißen, daß es das Ende zwischendurch vergißt. US-Regisseur Robert Zemeckis (63) kann das.

In „The Walk“ läßt er den Franzosen Philippe Petit, auf der Freiheitsstatue stehend, seine Geschichte erzählen: Wie er zwischen den Türmen des World Trade Centers im August 1974 einen illegalen Drahtseilakt gewagt hat. Von vornherein ist klar, daß sein Vorhaben gelungen ist. Die Frage im Film ist allerdings, wie es zu dem Drahtseilakt gekommen ist, und Joseph Gordon-Levitt spielt diesen Philippe Petit, dem man das Gelingen auch von Herzen wünscht. So sympathisch ist er.

Immer wieder droht der Abbruch

Der Film zeigt in Rückblenden, wie er als Jongleur in Paris anfing, wie er unter Anleitung seines Mentors Papa Rudy (Ben Kingsley) das Laufen auf dem Seil erlernte, wie er sich in Annie (Charlotte Le Bon) verliebte und wie er den Plan zu seinem waghalsigen Vorhaben faßte, als ihm ein Illustriertenartikel über das World Trade Center in die Hände fiel.

Nach Philippe Petits eigenem Erlebnisbericht „To Reach the Clouds“ schildert Zemeckis minutiös Planung und Durchführung in New York. Kurz vor der offiziellen Eröffnung der Twin Towers ist für Petit der geeignete Zeitpunkt für die geheime Aktion. Doch als das Material auf das Dach gebracht werden soll, ist der Aufzug von einer Firma den ganzen Tag über blockiert. Ein Helfer will aussteigen, ein Wachmann kommt im ungünstigen Moment. Immer wieder droht der Abbruch, steht der Drahtseilakt in mehr als 400 Meter Höhe kurz vor dem Aus.

Keine Frage, Zemeckis, der sich mit der „Zurück in die Zukunft“–Trilogie, mit „Forrest Gump“ und „Cast Away“ einen Platz in der Filmgeschichte gesichert hat, weiß sein Publikum zu unterhalten und spannende Höhepunkte zu setzen. Auch glänzt die digitale Filmbearbeitung bei der Erschaffung des World Trade Centers, noch dazu in 3D. Doch die Hauptfigur seines Films bleibt seltsam eindimensional, zu nett, zu harmlos für einen Mann, der solch ein Unternehmen durchgezogen hat. „The Walk“ erzählt ein Märchen aus einer heilen Welt, das voller Bewunderung für New York ist. Daß viele Jahre später die Zwillingstürme zusammenstürzen werden und die amerikanische Regierung einen zweifelhaften Krieg gegen den Terrorismus beginnt, kommt nicht darin vor.