© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit heute
Kotau vor der Macht
Wolfgang Kaufmann

Die DDR, deren Ende vor 25 Jahren eingeläutet wurde, war eine Diktatur, die sich kaum ernsthaft Mühe gab, ihre Natur zu verleugnen. Zwar garantierte die Verfassung des „Arbeiter- und Bauernstaates“ Meinungs-, Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie auch Presse- und Wissenschaftsfreiheit, doch in der Praxis gab es nicht sehr viel davon. Deshalb entwickelten die Bürger der DDR eine enorme Wertschätzung dieser Rechte, welche sie in der benachbarten Bundesrepublik in vorbildlicher Weise verwirklicht sahen.

Um so tiefer ist jetzt die Ernüchterung, ja Enttäuschung nach 25 Jahren deutscher Einheit darüber, daß die damals in der Bundesrepublik Deutschland noch weitgehend unbeschränkten Freiheitsrechte nur mehr als Schatten ihrer selbst existieren, weil sich das wiedervereinigte Deutschland in einen Staat verwandelt hat, dessen Züge immer mehr der Fratze der DDR ähneln. Dafür sind freilich nicht nur die ebenso charakterlosen wie mediokren Emporkömmlinge aus dem Osten verantwortlich, die durch eine Laune der Geschichte in diverse politische Ämter gespült wurden. Vielmehr entwickelten die Menschen in den alten und neuen Bundesländern in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten eine teilweise schon fast masochistische Lust am Überbordwerfen ihrer Freiheitsrechte. Die Ursache hierfür liegt in dem Umstand, daß Freiheit eben auch Verantwortung bedeutet – und Verantwortungsscheu gepaart mit Staatsgläubigkeit ist eine der zentralsten Eigenschaften des gesamtdeutschen Bürgers.

Die Folgen waren und sind katastrophal; wobei es sich aber verbietet, von einer bloßen Reanimation des Stasi-Staates zu sprechen. Vielmehr ist eine neue Qualität der Unfreiheit entstanden, die manchmal alles übertrifft, was es in der deutschen Geschichte diesbezüglich schon an Negativem gegeben hat. So versuchten Spitzel und Denunzianten selbst in der DDR und im Dritten Reich im verborgenen zu agieren, weil sie trotz ihrer menschlichen Verkommenheit immer noch einen Rest an Schamgefühl und Unrechtsbewußtsein besaßen. Heute hingegen lassen sich solche in aller Öffentlichkeit feiern, wenn es ihnen gelang, jemand mit einer anderen Meinung der sozialen Vernichtung zuzuführen. Das „Gutmenschentum“ hat hier inzwischen also zu einer sehr viel umfassenderen Umwertung von moralischen Werten geführt, als dies der nationale und der „reale“ Sozialismus je vermochten.

Ein weiterer Unterschied zur untergegangenen DDR ist der Umstand, daß Menschen heute auch dann auf ihre Grundrechte verzichten, wenn ein Beharren auf denselben keine ernsthaften negativen Folgen haben würde – die wachsende Konformität resultiert also tatsächlich aus der Bequemlichkeit der Saturierten und ihrer antrainierten Denkfaulheit und Denkunfähigkeit statt aus Angst. Während das DDR-System, in dem das Prinzip des Mangels herrschte, die Sinne schärfte und subversive Ener­gien freisetzte, macht die Wohlstandsblase, in der die Bundesrepublik ruht, träge und kritiklos. Viele spüren heute im Gegensatz zu den Karrieristen im Honecker-Staat gar nicht mehr, wie sehr sie sich eigentlich prostituieren, wenn sie permanent vor dem Altar der Political Correctness niederknien und pflichtschuldigst Sprechblasen absondern.

Die Besetzung universitärer Schlüsselpositionen mit Personen, die weniger für wissenschaftliche Brillanz und Selbstbehauptung als für den demütigen Kotau vor der Macht und dem Mainstream stehen, hat selbstverständlich fatale Konsequenzen.

Das gilt auch und gerade für Wissenschaftler und andere Angehörige der Intelligenz: Deren vielfach zu beobachtendes rückgrat- und charakterloses Einknicken vor scheinbaren gesellschaftlichen Zweckmäßigkeiten sowie in eindeutiger Manipulations- oder Unterdrückungsabsicht lancierten politischen Begriffen kann man heute noch wesentlich häufiger beobachten als zu der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zu der Gottfried Benn das „hündische Kriechen“ der deutschen Gelehrtenzunft als veritable Bedrohung der geistigen Substanz des Abendlandes bezeichnete.

Dabei stellt sich natürlich die Frage, wieso die geistigen Eliten nicht als Bewahrer der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auftreten, sondern im Pulk der Totengräber derselben in der ersten Reihe mitmarschieren. Die Antwort hierauf lautet, daß Wissenschaftler und Intelligenzler heute vielfach eben keine gesellschaftliche Elite mehr darstellen, weil sie eine in mehrfacher Hinsicht prekäre Existenz führen.

Was beispielsweise sollen all die wenig brillanten „Denker“, die in der rauhen Welt außerhalb der ökologischen Nische Universität keine berufliche Überlebenschance haben, denn tun, um Karriere zu machen, außer dem Zeitgeist zu huldigen? Wenn jemand ohne ausreichende fachliche Kompetenz auf einen Lehrstuhl gehievt wird, weil er das richtige Geschlecht oder das passende Parteibuch hat, dann muß er seinen Gönnern durch Unterwerfung entgegenkommen, weil er sich nicht – wie das normalerweise üblich ist – durch wissenschaftliche Leistungen revanchieren kann. Vor diesem Hintergrund sind die knapp 200 Professuren für Genderforschung keinesfalls nur Brückenköpfe zur Etablierung einer wirren Ideologie, sondern auch probates Mittel, um die Freiheit der Wissenschaft zu beschneiden.

Apropos Genderforschung: Allein in Berlin existieren mittlerweile mehr Professuren für „Gender Studies“ und ähnliche „Fächer“, als es in der ganzen DDR Lehrstühle für Marxismus-Leninismus gab. So viele akademische Systemgünstlinge und so viel wissenschaftliche Ineffizienz wie die reiche Bundesrepublik konnte und wollte sich der kleine „Arbeiter- und Bauernstaat“ zwischen Elbe und Oder nicht leisten.

Die Besetzung universitärer Schlüsselpositionen mit Personen, die weniger für wissenschaftliche Brillanz und Selbstbehauptung als für den demütigen Kotau vor der Macht und dem Mainstream stehen, hat selbstverständlich fatale Konsequenzen: Durch die Präsenz der Untauglichen sinkt das wissenschaftliche Niveau, was wiederum dazu führt, daß verstärkt inkompetente Personen als Studenten an die Hochschulen drängen, wo sie die nun ohnehin schon niedrigen Qualitätsstandards noch weiter drücken und zugleich aggressiv zum Sturmangriff auf die noch vorhandenen Reste der Wissenschaftsfreiheit blasen.

Und das untergräbt freilich auch die Position derer, die nicht zu den Konjunkturrittern oder Nutznießern dubioser, weil dysfunktionaler „Professorinnenprogramme“ zählen: Sie stehen unter permanenter Beobachtung von Vertretern diverser „Studierendenausschüsse“ und „Fachschaften“, deren Bestreben dahin geht, ihre Hochschullehrer zu gängeln oder gar zu verdrängen. Dabei paart sich der ideologische Machtanspruch der Exponenten einer indoktrinierten, politisch verbildeten Jugend mit der Boshaftigkeit von Versagern, denen die Fähigkeit zu eigenschöpferischen Leistungen abgeht, wofür das Schulsystem unseres Landes verantwortlich ist. Auf diese Weise kann es zu Hexenjagden auf Gelehrte kommen, welche an das Treiben der Roten Garden während Maos Kulturrevolution erinnern, aber definitiv kein Pendant im DDR-Hochschulwesen haben. Dort regierte nicht der Mob der Pisa-Verlierer, sondern die Partei – die und niemand anders entschied über die „Linientreue“ und damit Eignung der Professoren.

Daß ein Wissenschaftler heute so mannigfach angreifbar ist, resultiert zum einen aus der verbreiteten Abhängigkeit von staatlichen Geldtöpfen, über die Politiker wachen, welche oft mehr fundamentalistisch als pragmatisch denken, und zum anderen aus der Vielzahl „zivilgesellschaftlich“ generierter ideologischer Vorgaben und Denkverbote, deren Anzahl seinesgleichen sucht.

Historiker müssen in besonderem Maße erleben, wie servile Fachkollegen unter dem Druck von Politik und Medien Phänomene der Vergangenheit uminterpretieren und dabei neue fachliche Normen schaffen, bis hin zur Technik der Auslassung.

So werden Forscher inzwischen unter Druck gesetzt, die hormonell-chromosomale Basis der Geschlechtsidentität und damit biologische Fakten zu negieren. Ingenieure bekommen auferlegt, die Atomkraft per se als verdammungswürdig zu betrachten, egal wie fragil unsere Stromversorgung durch die „Energiewende“ auch ausfallen mag. Meteorologen haben gefälligst an den „Klimawandel“ zu glauben und quasireligiöse Thesen zur Richtschnur ihrer Arbeit zu machen, andernfalls werden sie zu „Klimaleugnern“ erklärt, denen man schon mal androht, sie über kurz oder lang genauso zu behandeln wie diejenigen, die den Holocaust abstreiten – so gesehen im Editorial des Magazins National Geographic Deutschland.

Überhaupt: die Geschichtswissenschaft! Historiker müssen in besonders starkem Maße erleben, wie servile Fachkollegen unter dem Druck der Politik und öffentlichen Meinung Phänomene der Vergangenheit uminterpretieren und dabei ganz neue fachliche Normen schaffen – bis hin zur „Technik“ der Vernachlässigung von „unbequemen“ Quellen. So mutierte die Völkerwanderung parallel zur Zunahme der Flüchtlingsströme nach Europa, denen die Asyl­gewinnler unbedingt etwas Positives andichten wollen, von einem gewaltsamen Prozeß der Landnahme von seiten Fremder zur „sanften Transformation“ der antiken Welt in die mittelalterliche, welche durch eine Vielzahl „bereichernder“ Kulturkontakte gekennzeichnet gewesen sei. Und da interessiert es auch nicht, daß die schriftlichen Überlieferungen und archäologischen Zeugnisse etwas ganz anderes besagen.

Ebenso unfrei sind die Religionswissenschaftler, die sich mit dem Islam auseinandersetzen möchten. Hier stößt die Anwendung bewährter Methoden, wie beispielsweise der Textkritik, gleichfalls auf massiven Widerstand, wobei die treibenden Kräfte beileibe nicht nur in den Reihen eifernder Salafisten, sondern auch in der Politik zu finden sind.

Vor diesem Hintergrund verlieren die Behinderungen der Wissenschaftsfreiheit in der DDR, welche im Prinzip sämtlich Implikationen aus der herrschenden Lehre des Marxismus-Leninismus, aber eben keinen Angriff auf den gesunden Menschenverstand und keine Bedrohung der nationalen Existenz darstellten, doch einiges an Monstrosität.

Somit haben sich in den 25 Jahren seit der Wiedervereinigung weder auf dem Gebiet der Meinungs- noch auf dem der Wissenschaftsfreiheit grundsätzliche Verbesserungen ergeben. Vielmehr existieren immer noch erhebliche Einschränkungen, wenngleich diese jetzt völlig anderer Natur sind. Jeder Unzufriedene kann ohne größere Probleme auswandern – eine Möglichkeit, die tatsächlich viele hochqualifizierte Menschen nutzen. Das ist einer der Gründe, warum es hierzulande zunehmend an Fachkräften mangelt. Froh kann einen dieser verbreitete Hang, sich aus der Verantwortung für das Land herauszuziehen, nicht machen.






Dr. Wolfgang Kaufmann, Jahrgang 1957, Historiker, lehrte an der Universität Leipzig und ist heute im privaten Bildungssektor tätig. Zuletzt thematisierte er auf dem Forum den politischen Mißbrauch des Verfassungsschutzes („Schlappe Hüter“, JF 41/12).

Foto: Unter Druck lieber den Kopf einziehen, statt erhobenen Hauptes zu bestehen: Die Bürger verzichten heute auch dann auf ihre Grundrechte, wenn ein Beharren auf denselben keine ernsthaften negativen Folgen haben würde – die wachsende Konformität resultiert tatsächlich aus der Bequemlichkeit der Saturierten und ihrer antrainierten Denkfaulheit